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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1184–1186

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Tsumura, David Toshio

Titel/Untertitel:

The First Book of Samuel.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2007. XXII, 698 S. gr.8° = The New International Commentary on the Old Testament. Lw. US$ 50,00. ISBN 978-0-8028-2359-5.

Rezensent:

Rainer Kessler

Der japanische Alttestamentler D. T. Tsumura, der am Japan Bible Seminary in Tokio lehrt, legt den mit über 700 Seiten umfang­reichs­ten Kommentar zum 1. Samuelbuch vor, der sich zurzeit auf dem Markt befindet. Die Kommentierung von 2. Samuel ist angekündigt (XII).
Dem Umfang entspricht die Breite des Materials, das T. behandelt. Der Kommentar enthält eine schier unerschöpfliche Fülle von Beobachtungen zur Textgeschichte und Textkritik. Sie weichen meist vom Mainstream ab, sind aber gerade deshalb anregend. Er behandelt philologische Fragen unter Einbeziehung zahlreicher antiker Sprachen. Das Register fremdsprachiger Worte hat die Rubriken akkadisch, ugaritisch, arabisch, aramäisch, sumerisch, punisch-phönizisch, syrisch, hethitisch-anatolisch, ägyptisch, äthio­pisch und griechisch. T. beachtet sorgfältig stilistische Phänomene in den Texten. Neben den bekannten Techniken von Chiasmus und Inklusion beansprucht T. für sich, die Aufmerksamkeit besonders auf das Phänomen der »literarischen Einfügung« (liter­ary insertion) zu legen; er meint damit das »AXB pattern«, bei dem in einen normalerweise zusammengehörenden linguistischen Komplex AB ein diesem fremdes Element X eingefügt wird (60-64). T. beschreibt einfühlsam die literarischen Strukturen der behandelten Texte und arbeitet dabei zahlreiche intertextuelle Bezüge heraus. Bei alledem bezieht er den altorientalischen Hintergrund ein und diskutiert die relevante Forschungsliteratur, von der er sich zumeist absetzt.
Diese eindrucksvolle Arbeit stellt T. in einen Rahmen, den der Herausgeber der NICOT-Reihe, Robert L. Hubbard Jr., in seinem Vorwort als evangelikal bezeichnet. Darunter versteht er die Überzeugung, dass »die Bibel Gottes inspiriertes Wort, niedergeschrieben von begabten menschlichen Autoren« ist und deshalb nicht auf gleiche Weise wie andere antike literarische Werke – genannt sind die Ilias und das Gilgamesch-Epos – behandelt werden darf (X). Für T., der diese Auffassung teilt, hat sie unmittelbare Konsequenzen für eine Reihe von Einleitungsfragen. Was die Textgestalt betrifft, geht er entgegen verbreiteten Ansichten davon aus, dass es nicht mehrere Varianten, sondern nur einen einzigen Urtext gibt, auch wenn dieser nicht immer erreichbar ist. Allerdings kommt ihm M am nächsten, während die G-Fassung eine Glättung der hebrä­ischen Vorlage darstellt. Das meiste, was textlich moniert wird, erklärt T. mit den Phänomenen »phonetischer Schreibweise« und idiomatischer Ausdrücke. Er ist überzeugt, dass »die Mehrzahl der vorgeschlagenen Emendationen unnötig sind« (10).
Da T. die Inspiriertheit des Textes nicht als Verbalinspiration begreift, geht er durchaus davon aus, dass 1. Samuel auf Quellen beruht und in mehreren Stufen entstanden ist. Allerdings stutzt der mitteleuropäische Rezensent, wenn er gleich zu Beginn liest, dass die »endgültige Ausgabe von 1–2. Samuel … wahrscheinlich nicht später als das späte 10. Jh. v. Chr.« erstellt wurde (11). Dann können die zu Grunde liegenden Quellen allesamt nur aus dem 10. Jh. stammen. In der Tat: Die »Geschichte Samuels« (1Sam 1–7), in die die alte Ladegeschichte (1Sam 4,1–7,1) eingefügt ist, entstammt ebenso der »frühen Zeit von Samuels Dienst« wie 1Sam 8. Die »Geschichte Sauls« (1Sam 9–15) ist in »einer späteren Zeit der Ära Samuels« entstanden. Die »Geschichte von Saul und David« (1Sam 16–31) wurde »während der frühen Zeit der Ära Davids komponiert«. Und die »Geschichte von König David« (2Sam 1–20) zusammen mit den »Epilogen« in 2Sam 21–24 stammt aus den späteren Abschnitten von Davids Herrschaft, allenfalls der Frühzeit Salomos (31).
Eine solche extreme Frühdatierung – für einige Passagen will T. die persönliche Verfasserschaft durch Samuel nicht ausschließen (2) – verlangt nach einer historischen Plausibilisierung. Diese erzielt T. dadurch, dass er für die historische Rekonstruktion der Epoche des 10. Jh.s als Quelle nahezu ausschließlich das 1. Samuelbuch selbst heranzieht, so besonders eindrücklich auf S. 36 f. nachzulesen. Archäologische Befunde dienen allenfalls der Stützung des so gewonnenen Bildes. Damit ist der Zirkel geschlossen: Ein nicht nur textgeschichtlich zuverlässiger Text kann zuverlässig in die Zeit unmittelbar nach den erzählten Ereignissen datiert werden, weil die Zuverlässigkeit dieser Ereignisse zuvor aus eben diesem Text erhoben wurde.
Das so von T. entworfene geschlossene Bild hat viele Auswirkungen auf die Einzelkommentierung. Dass in diesem Bild das Phänomen des Deuteronomismus keinen Platz hat, versteht sich von selbst und wird auf S. 16–19 in einer Diskussion der Position Noths festgehalten. Allerdings heißt das für T., dass er nun in der Einzelauslegung etwa der Rede des Gottesmannes in 1Sam 2,27–36, für die immer wieder deuteronomistische Herkunft oder Redaktion be­hauptet wird, das Phänomen mit keinem Wort mehr erwähnt und folglich nicht am konkreten Text diskutiert (162–171). Formgeschichtliche Betrachtungen, die etwa bei 1Sam 7 auf einen stark summarischen und schematischen Charakter führen würden, werden nicht angestellt (229–241). Die allseits bekannten Spannungen und Widersprüche in den Erzählungen werden harmonisiert. So sieht T. durchaus, dass Saul in 1Sam 9–10 ein junger Mann ist, der im Haus seines Vaters lebt (333), während er in 1Sam 13–14 einen kampffähigen Sohn Jonatan hat. Dazwischen ist von zwei Jahren der Regierung Sauls die Rede (13,1), was T. auch so übersetzt: »and just for two years he ruled over Israel« (330). Unter der Hand wird daraus dann aber »a ›couple of years‹« (386), so dass plötzlich Zeit für das Heranwachsen Jonatans gewonnen ist. Die drei Traditionen von der Königswerdung Sauls werden so harmonisiert, dass es in 9,1–10,16 um seine private Wahl, in 10,17–27 um seine öffentliche politische Proklamation und in Kapitel 11 um seine religiöse Bestätigung geht (296.313). Das sachliche Problem, dass Saul in 15,4 über eine Armee von 210.000 Mann verfügt, während sein Heer in 13,2 gerade einmal 3.000 Mann umfasst, von denen nach 13,15 nur mehr 600 kämpfen, löst T. mit dem Hinweis darauf, das Heer habe in der dazwischenliegenden Zeit gewaltig anwachsen können (393). Dass T. Fragen der Siedlungsgeographie nicht anschneidet, ist klug. Sie würden nicht einmal für die Gesamtbevölkerung eine Zahl von 210.000 Personen ergeben, geschweige denn allein für die kämp­fende Truppe.
T. macht durchaus schöne Beobachtungen zur Interpretation des Endtextes. Aber er erkauft sie damit, dass er den Text letztlich enthistorisiert. Das ist paradox. Denn eigentlich will er seine historische Zuverlässigkeit erweisen, worin nach evangelikalem Verständnis die theologische Zuverlässigkeit gründen soll – eine Auffassung, die sich zutiefst dem Historismus des 19. Jh.s verdankt. Doch T. erweist nicht die historische Zuverlässigkeit in diesem his­toristischen Sinn, sondern setzt sie voraus. Infolgedessen nimmt er den Texten gerade ihre historische Tiefe. Die Texte werden genauso flächig und unhistorisch gelesen wie bei den Vertretern des »So-Called New Literary Criticism«, die T. auf S. 20–22 referiert und die nach dem historischen Kontext nicht einmal fragen.
Der von T. ausgelegte Text wird spannungslos. Es gibt keine Re-Interpretationen auf Grund neuer geschichtlicher Erfahrungen, wie sie sich in den widersprüchlichen und spannungsvollen Texten zur Entstehung des Königtums in 1Sam 8–12 spiegeln. Es gibt keine Diskussion über das spannungsvolle Verhältnis von Prophet und König, wie es in der Figurenkonstellation von Samuel, Saul und David aufscheint und als Vorspiel zur Darstellung der Ge­schichte der gesamten Königszeit in den Samuel- und Königebüchern gelesen werden kann. Es gibt keine Vorabbildung des spannungsvollen Verhältnisses zwischen dem israelitischen Norden und dem judäischen Süden, wie sie die Erzählungen von Saul und David prägt.
Ein in vielerlei Hinsicht gründlicher und anregender Kommentar opfert die historische Tiefe der Texte auf dem Altar fundamentalistisch-historistischer »Zuverlässigkeit«. Schade!