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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1120–1121

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kaul, Susanne, u. Lothar van Laak [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethik des Verstehens. Beiträge zu einer philosophischen und literarischen Hermeneutik.

Verlag:

München: Fink 2007. 256 S. gr.8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7705-4509-4.

Rezensent:

Klaus Weimar

Man sagt so etwas ja nicht gern, aber es muss diesmal doch gesagt sein: Dieser Sammelband, Dokumentation der Ringvorlesung Hermeneutik, zu der sich Angehörige der Universität Bielefeld (nur ein Externer ist dabei) 2005 zusammengefunden haben, hätte als solcher nicht publiziert werden sollen, nicht in dieser Zusammenstellung und nicht unter diesem Titel. Denn einerseits ist eine Publikation in einem wissenschaftlichen Verlag ein anderes Medium mit anderen Ansprüchen und Anforderungen und mit einem anderen Publikum als eine Ringvorlesung, und andererseits macht der neue Titel Ethik des Verstehens, wohl von den Herausgebern auf eigene Faust gesetzt, den Sammelband fast zu einer Mogelpa­ckung. Vier Erklärungen dazu.
Erstens und allgemein: Einem informierten Lesepublikum sollten Basisinformationen erspart bleiben, die es längst und wahrscheinlich besser hat, und das ist hier mehr als einmal nicht beachtet worden, indem etwa ein ausführlicher, erklärtermaßen und auch erkennbar unselbständiger Überblick über die Geschichte der Rhetorik oder auch anderes abgedruckt wird, das sich auf Proseminar- oder Volkshochschulniveau befindet. Unbefriedigend.
Zweitens und nochmals allgemein: Wer sich an eine wissenschaftliche Öffentlichkeit wendet, sollte damit vertraut sein, dass und wie das behandelte Thema (in diesem Fall: Hermeneutik) sonst derzeit verhandelt und diskutiert wird; in diesem Band aber kennt mehr als nur ein Beitrag als Referenzgröße in Sachen Hermeneutik fast nur Gadamer und die Gadamer-Rezeption. Rückständig.
Drittens und speziell: Der Mitherausgeber Lothar van Laak schlägt als beste ethische Maxime für das Verstehen und Deuten »das Prinzip der hermeneutischen Billigkeit« (88) nach Georg Friedrich Meier (1757) vor, hat aber offenbar keine Ahnung davon, dass es längst von anderer Seite in anspruchsvollem systematischem Zusammenhang und mit großem Echo unter dem Namen principle of charity ›vorgeschlagen‹ worden ist, von Donald Davidson nämlich. Ärgerlich, peinlich.
Viertens und ähnlich speziell: Mit dem neuen Titel Ethik des Verstehens haben sich die Herausgeber in die internationale und interdisziplinäre Debatte unter dem Kennwort ethics of reading (1981 von J. Hillis Miller angestoßen) eingeklinkt, von der sie ganz offenkundig noch nie gehört haben. Blamabel provinziell.
Außerdem zeichnet sich dieser Sammelband an zu vielen Stellen durch die Art von Nicht-Unterscheidung aus, die eine Todsünde in jeder Wissenschaft ist. Schon im ersten Satz der Einleitung be­weisen die Herausgeber, dass sie zwischen Verstehen und Hermeneutik nicht zu unterscheiden wissen, indem sie »Ethik des Verstehens« durch »Ethik der Hermeneutik« ersetzen (9), und im Unter­titel kündigen sie Beiträge zu einer »literarischen Hermeneutik« an, wo es doch eindeutig und nur um literaturwissenschaftliche Hermeneutik gehen könnte. Beide Male stehen sie damit nicht allein.
Soll nun also der neue Titel Ethik des Verstehens, ungefähr wie in jener Debatte, das Set von Normen bezeichnen, denen das Verstehen untersteht und sich unterstellt, wenn es gut sein soll oder will, dann wird der Katalog, in dem das Prinzip der Billigkeit längst enthalten ist, durch diesen Band nur um zwei weitere Einträge bereichert. Friedmar Apel weist auf Peter Szondis ethisch motivierte Polemik gegen die ›Parallelstellenmethode‹ hin, die Individuelles im Allgemeinen untergehen lasse (107–112), und Katja Malsch skizziert den Sonderfall des von der Erbauungsliteratur oft sogar ausdrücklich geforderten erbaulichen Verstehens, das die semantische Reproduktion ergänzt und überbietet durch existentielle Aneignung und Inkorporation oder Beherzigung des Verstandenen (149–172).
Drei weitere Beiträge sind durch den neuen Titel leider randständig geworden, weil sie ethische Aspekte des Verstehens nicht ansprechen oder jedenfalls nicht ins Zentrum stellen. Es sind ausge­rechnet die drei, die sich unaufdringlich, unspektakulär und selbstverständlich dort situieren und aufhalten, wo heutzutage über Verstehen und Hermeneutik nachgedacht wird. – Rüdiger Bitt­ner setzt sich (23–32) mit Verve und überzeugenden alltagssprachlichen Beispielen dafür ein, ›Verstehen‹ als einen komparativen Begriff anzusetzen: Verstehen sei nicht eine andere Art der Erkenntnis (als z. B. naturwissenschaftliches Erklären), sondern überlegene Erkenntnis; im gleichen Abwasch dann auch noch an­deres zu entsorgen (z. B. das Konzept ›Sinn‹), halte ich dagegen weder für nötig noch für schlüssig. – Marco Iorio demontiert be­scheiden, klar und schön den Geltungs- und Wahrheitsanspruch des Gemeinspruchs »Alles verstehen heißt alles verzeihen« und zeigt auch noch, wie und wodurch dieser Spruch Unkritische über seine Schwäche hinwegtäuschen kann (33–43). – Matthias Busch­meier schließlich extrahiert aus Niklas Luhmanns Schriften eine Hermeneutik, die sich nur schon dadurch aller Aufmerksamkeit empfiehlt, dass sie den Begriff ›Kommunikation‹ als einen allzu sehr metaphysisch belasteten verwirft (199–224).