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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1090–1093

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilckens, Ulrich

Titel/Untertitel:

Theologie des Neuen Testaments. Bd. II: Die Theologie des Neuen Testaments als Grundlage kirchlicher Lehre. Teilbd. 1: Das Fundament.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagshaus 2007. XVI, 327 S. 8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7887-1908-1.

Rezensent:

Ferdinand Hahn

Ulrich Wilckens hat den ersten Band seiner Theologie des Neuen Testaments unter dem Titel »Geschichte der urchristlichen Theologie« in vier Teilbänden vorgelegt (vgl. meine Besprechungen in ThLZ 129 [2004], 1305–1309, und 132 [2007], 46–48). Ende 2007 ist nun von dem zweiten Band der erste Teilband erschienen. Nach einer methodologischen »Einleitung« (1–14) folgt im Anschluss an das die Entstehung des Kanons behandelnde Schlusskapitel von Bd. I/4 eine Erörterung über »Die theologische Bedeutung des Kanons für Glaube und Leben der Kirche« (15–85). Daran schließt sich das umfangreiche zweite Kapitel an: »Der einzig-eine Gott: Theo-logie im Alten Testament« (86–174). Dann werden in drei Kapiteln das Wirken Jesu (175–223), Tod und Auferweckung Jesu Christi (224–268) und der Heilige Geist behandelt (269–314).
1. Wie in Bd. I/1 sind in II/1 die methodologischen Überlegungen zu beachten. Ging es im historischen Teil um ein »Nach-Erzählen«, so jetzt im systematischen Teil um ein darauf aufbauendes »Nach-Denken« über die »Selbstoffenbarung Gottes in der ge­schichtlichen Verwirklichung seines Heilswillens« (2). Unter dieser Voraussetzung besitzen die verschiedenen Einzelthemen eine »übergreifende Zusammengehörigkeit« (3). Dabei gilt es, nicht nur die Inhalte der neutestamentlichen Theologie zu vermitteln, sondern auch »die Denkweise zu finden, in der deren göttliche Wahrheit überhaupt von Menschen unserer Gegenwart zu erkennen und zu verstehen ist« (4). Das führt zu einer »geistlich-reflektierten Schriftauslegung«, weil »Theologie und Doxologie … auf das lebendigste und intensiv­s­te miteinander verbunden« sind (5). Jede Theo­logie des Neuen Tes-taments muss ja von »zwei grundlegenden Voraussetzungen ausgehen: der formalen des biblischen Kanons und der inhaltlichen, dass es die Wirklichkeit des Handelns Gottes ist, die alle biblischen Schriften bezeugen, und die darum exegetisch wahrzunehmen und theologisch ernst zu nehmen ist« (6). Es geht um die »Grundrelation von Wort und Handeln in Gott selbst«, die das »hermeneutische Rückgrat« der vorgelegten Theologie des Neuen Testaments ist (8).
1.1 Da für W. der biblische Kanon mit guten Gründen unbestreitbare Voraussetzung ist, stellt sich im ersten Kapitel die Frage nach dessen theologischer Bedeutung. Wie Gott die »Mitte« der Schrift des Alten Testaments ist, so die »Einheit Gottes mit Jesus« die »Mitte« einer neutestamentlichen Theologie (17 ff.20 ff.). Entscheidend ist dabei das Christuszeugnis der ganzen Heiligen Schrift (22 ff.). Mit diesen Grundthesen verbindet W. Erörterungen über »Probleme christlicher Auslegung des Alten Testaments im Neuen Testament« (25 ff.) sowie »Probleme der Auslegung neutes­tamentlicher Texte« (41 ff.), was er einmünden lässt in einen Ab­schnitt über »Geistliche Schriftlesung (lectio divina)« (60 ff.).
1.2 Das umfangreiche zweite Kapitel »Der einzig-eine Gott: Theo-logie im Alten Testament« (86–174) behandelt das Zeugnis des Alten Testaments in seinen verschiedenen Schichten (Tora, Propheten, Psalmen, Weisheitsschriften). Dabei geht es um das Wirken Gottes im vorchristlichen Israel. Grundlage für die Besprechung der einzelnen Schriftkomplexe sind die »drei Selbstoffenbarungen Gottes«: »Der einzig-eine Gott (Ex 3,14 und 6,2–8)«, »Der Gott Israels (Ex 20,2; Dtn 6,4 f)« und »Barmherzige Liebe als das Wesen Gottes (Ex34,6 f.)« (91–99), wobei die Barmherzigkeit und Liebe Gottes besonders hervorgehoben wird.
1.3 Das dritte Kapitel behandelt »Gottes Heilsvollendung im Wirken und Geschick Jesu« und ist der Christologie gewidmet (175–223). W. setzt ein mit dem Doppelbekenntnis zu Gott und Jesus Christus und entfaltet dies im Blick auf Jesu Wirken sowie dessen Tod und Auferweckung (184 ff.200 ff.). Entscheidend ist Jesu unlösbare Bindung an den Vater, wobei die Hoheitsbezeichnungen »Menschensohn« und »Sohn Gottes« Verschiedenheit und Einheit beider hervorheben (195 ff.). Die von Jesus proklamierte Königsherrschaft Gottes vollendet sich in seinem Tod und seiner Auferweckung. Jesu Sterben steht dabei unter dem Vorzeichen der universalen Sühnkraft, die Gottes Zorn aufhebt (204 ff.); in der Auferweckung durch Gott, bei der geschichtliche und eschatologische Wirklichkeit zu­sammen­fallen, offenbart sich die »Allmacht seiner Liebe« (206). Mit einem Abschnitt über die Einheit von Vater und Sohn im Johannesevangelium wird das Kapitel abgeschlossen (213–223).
1.4 Im vierten Kapitel »Der Tod und die Auferstehung Jesu Chris­ti als das zentrale Heilsgeschehen in Verkündigung und Theologie der Urkirche« wird die Soteriologie behandelt (226–268). Hier stehen im Neuen Testament mehrere »Modelle« nebenein­ander, von denen fünf ausführlich besprochen werden: Jesu Aufer­weckung als Grund allen christlichen Lebens in Hoffnung (226 ff.), Jesu Tod in seiner Heilsbedeutung »für unsere Sünden« (230 ff.), Jesu Erniedrigung und Erhöhung und seine Sendung in die Welt (250 ff.), das Sühnehandeln des erniedrigten und erhöhten Hohenpriesters Christus (258 ff.) sowie Endgericht und Enderlösung nach der Johannesoffenbarung (262 ff.). Diese Modelle sind »in verschiedener Weise miteinander vernetzt« (262), was zusammenfassend kurz dargelegt wird (265–267). Die Heilsbedeutung des Todes und der Auferweckung Jesu wird unter Berücksichtigung von Ex 34,6 f. besonders betont: »In Christi Selbsthingabe hat Gott seine Erwäh lungsliebe in letzter Radikalität verwirklicht, und in der Aufer­weckung seines für uns am Kreuz gestorbenen Sohnes hat Gott dessen Stellvertretung zu ihrem ewigen Sieg gebracht« (239).
1.5 Im fünften Kapitel wird die Pneumatologie behandelt (269–313). Es geht dabei vor allem um die Einbettung des Geistwirkens und die trinitarische Struktur aller Heilsverkündigung im Neuen Testament (269 f.). Nach den alttestamentlichen Voraussetzungen wird die Vielfalt der Geistwirkungen anhand des urchristlichen Zeugnisses besprochen, wobei auch das Verhältnis von Geist und Vernunft berücksichtigt wird (294 ff.). Weitere Teilabschnitte be­handeln die »geistliche Vollmacht der Verkündigenden« (302 f.), die mariologischen Aussagen des Neuen Testaments (308 ff.) und »Der drei-eine Gott« (311 ff.). Abschließend folgt eine »Doxologische Zu­sammenfassung« (312 f.).
2. Dem umfangreichen und konsequent durchgeführten Werk von W. ist hoher Respekt zu zollen. Die wesentlichen Konturen für den systematischen Teil werden in II/1 sichtbar. Der noch ausstehende Teilband II/2 wird sich in dieses Konzept einfügen. Mit dem Nebeneinander einer theologiegeschichtlichen und einer systematischen Darstellung der neutestamentlichen Theologie hat W. eine wichtige, auch noch bei jüngsten Veröffentlichungen vernachlässigte Aufgabe wahrgenommen. Dabei ist die Bemühung um eine »kanonische Exegese« durchaus sachgemäß. Dass gewisse Wiederholungen gegenüber Bd. I vorkommen, ist unvermeidbar und im Blick auf die je verschiedene Fragestellung berechtigt. Natürlich stellen sich auch einige Rückfragen an den vorliegenden Band.
2.1 Bei den im ersten Kapitel behandelten Auslegungsproblemen fallen die Ausführungen über eine sachkritische Auslegung auf, sofern diese im Blick auf das Alte Testament nur dort als notwendig und legitim angesehen werden, wo neutestamentliche Texte dies fordern (32–35). Demgegenüber wird beim Neuen Testament erwartet, Widersprüche nicht sachkritisch zu lösen, sondern »bewusst offen zu lassen« (58).
Nun wird man aber hinsichtlich der menschlichen Komponente der Heiligen Schrift durchaus mit ge­gensätzlichen Aussagen zu rechnen haben, die zu kritischen Reflexionen Anlass geben. Entsprechendes gilt für die Inspiration der Schrift (vgl. 60–68). Auch hier wird m. E. zu einseitig gesagt, dass der Geist die »Quelle aller Verkündigung« ist (63) und dementsprechend »der Inhalt der vorliegenden Schriften selbst eine geistliche Wirklichkeit ist, deren Erkenntnis eine entsprechende geistliche Befähigung der Ausleger er­fordert« (61). So unbestritten die geistliche Dimension der Heiligen Schrift ist, die Ambivalenz von Geistwirksamkeit und menschlicher Vermittlung ist wohl doch eingehender zu berücksichtigen.
2.2 Im zweiten Kapitel wird mit Recht nach dem eigenständigen Zeugnis des Alten Testaments gefragt. Damit ist, was nicht unterschätzt werden darf, de facto ein Ansatz für eine gesamtbiblische Theologie gegeben. Das geschieht hier unter einem offenbarungsgeschichtlichen Aspekt. Immerhin werden Schwerpunkte deutlich gemacht und in einer »dogmatisch-doxologischen Auswertung« zusammengefasst (162 ff.).
2.3 In den beiden Kapiteln über Christologie und Soteriologie steht die Frage nach der Priorität des Handelns Gottes im Vordergrund, was der programmatischen These der Einleitung zum ersten Band entspricht (I/1, 24). Dass im Blick auf die Entfaltung der christologisch-soteriologischen Verkündigung mehrere »Modelle« nebeneinandergestellt werden, verhindert eine Nivellierung der Aussagen; doch bleibt zu überlegen, ob diese Modelle hinreichend miteinander verzahnt worden sind. Die Zusammenfassungen (212f. und 265–267) hätte man sich etwas ausführlicher gewünscht. Auch bei der gesonderten Behandlung des Johannesevangeliums (213–223) vermisst man eine stärkere Integration.
2.4 Im Kapitel über die Pneumatologie wird für das Neue Testament eine ausgebildete trinitarische Auffassung vorausgesetzt. Zweifellos gibt es eine unverkennbare Tendenz in dieser Richtung, aber von einer Trinitätskonzeption im eigentlichen Sinn kann noch nicht gesprochen werden. Hier wäre eine differenziertere Darstellung wünschenswert gewesen. Beachtenswert ist übrigens, dass die Pneumatologie in diesem Band stärker berücksichtigt wird als in den programmatischen Ausführungen von Bd. I/1.
3. Schließlich ist auf die Frage einzugehen, in welcher Weise die in Teil I/1 geforderte »kritische Revision der historischen Bibelkritik« (dort 21 ff.) in Bd. II zum Tragen kommt und wie sie zu beurteilen ist. Die systematische Zusammenfassung der Einzelbeobachtungen am Neuen Testament kann damit nicht gemeint sein, sie erfolgt ja auf der Ebene der überlieferten Texte. Auch die Frage nach der spezifischen Dimension und dem Anspruch der Aussagen ist eine integrale exegetische Aufgabe, die zunächst im Rahmen einer Textanalyse zu erörtern ist. Ebenso ist die kanonische Exegese ein textbezogenes Bemühen, größere Zusammenhänge aufzuzeigen. Ein erweiterter Horizont ergibt sich erst dort, wo es um die Eruierung von Sinnpotentialen geht, die sich durch Kontext und Vergleichstexte ergeben. Ein solcher vertiefter Verstehensprozess führt zweifellos an die Grenze existentieller bzw. geistlicher Schriftauslegung. Mit dieser vollzieht sich dann aber eine Veränderung der Blickrichtung und des Textbezuges. Nun geht es um die Akzeptanz der in den verschiedenen Texten enthaltenen Verkündigungsaussagen und um deren Auslotung im Rahmen der für W. wesentlichen »geistlichen Schriftlesung«. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob diese selbst noch als Teil der exegetischen Methode angesehen werden kann oder ob sie nicht gerade als Korrelat zur wissenschaftlichen Schriftauslegung ihre unaufgebbare Bedeutung besitzt.