Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

862–865

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Mühling, Markus

Titel/Untertitel:

Versöhnendes Handeln – Handeln in Versöhnung. Gottes Opfer an die Menschen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 382 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 107. Geb. EUR 69,90. ISBN 978-3-525-56335-9.

Rezensent:

Matthias Gockel

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Negel, Joachim: Ambivalentes Opfer. Studien zur Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs. Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2005. 629 S. gr.8°. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-506-72817-3.


Während Mühling untersucht, inwiefern Leben, Tod und Auferstehung Jesu eine Heilsbedeutung haben, geht Negel von der Frage aus, ob der Tod Jesu ein Heilstod gewesen ist. Mühling beein­druckt durch systematische Stringenz, Negel durch kritische Neugierde.
Mühlings Einleitung zeigt exemplarisch, dass der Versöhnungsbegriff »hochaktuell« und zugleich »klärungsbedürftig« (9) ist. Intensiv wurde das Thema im 19. Jh. erörtert, aus dem Mühling zwei lutherische (Ritschl, Kähler), zwei römisch-katholische (Gün­ther, Scheeben) und drei reformierte (Erskine, McLeod Campbell und Dale) Theologen auswählt. Als Kontrast gegen die »scheinbare Selbstverständlichkeit« des Versöhnungsbegriffs spricht er – nicht metaphorisch, sondern »rein technisch« – von »Zurechtbringung« (17).
Der historisch-analytische Hauptteil beginnt mit der Darstellung von sechs soteriologischen Typologien. Sie zeigt, dass es kein brauchbares, konsensfähiges Klassifikationsschema gibt. Von daher entwickelt Mühling 20 konzeptionelle Fragen für seine sieben Autoren, wobei es ihm, anders als der Hegel-Schule, um den Widerspruch, nicht um die Vermittlung zwischen Gott und Mensch geht.
Das gilt auch für Mühlings eigene systematische Rekonstruktion im Schlussteil. Er setzt voraus, dass die Welt »mit Gott versöhnt ist« (293), und erörtert zuerst die Hintergründe der Zurechtbringung: Gott, Schöpfung, Sünde. Zu Gott gehören Liebe, eine Logik und eine regulierte Ordnung. Mit G. Thomasius meint Mühling, dass Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart keine Wesenseigenschaften Gottes sind, »weil sie sich auf die Relation Gottes zur Welt beziehen, die Welt aber als Geschöpf nicht zum Wesen Gottes gehört« (305). Gottes Schöpfung wird als Regel der Liebe bestimmt, wobei das biblische Doppelgebot der filialen Liebe zu Gott und der geschwisterlichen Liebe der Geschöpfe untereinander den Regel inhalt darstellt. Es handelt sich um eine deontisch-konstitutive Re­gel, die nicht nur Kontingenz, sondern auch Freiheit voraussetzt. Sowohl bei Gott als auch beim Menschen sind Handeln und Sein nicht zu trennen. »Der Mensch ist, was er tut« (313), und zwar, so wird schließlich deutlich, »Sünder« (318). Wenn nun aber Sünde als »Regelverletzung« (316) definiert wird, wenn es »unter den Bedingungen des Falls ... nicht möglich [ist], nicht zu sündigen« (318), und wenn »der Sündenfall des Gesamtorganismus letztlich jeder partikularen menschlichen Person zuzuschreiben ist« (322), dann ist die Doppelregel der Liebe faktisch unerfüllbar und es gibt im Menschen keine »prinzipielle Möglichkeit zur Regelerfüllung« (315), so dass man nicht mehr von einer deontischen Regel sprechen kann. Zudem wird später klar, dass erst die Zurechtbringung des Menschen durch Gott die »Wiederbefähigung« (338) zur Erfüllung der Liebesregel erwirkt.
Zweitens wird die Zurechtbringung in Jesus Christus als »Opfer Gottes an die Menschen« (332) thematisiert. Handlungssubjekt ist die zweite Person der Trinität, die sich selbst an die Welt hingibt. Hingabe ist dabei für Mühling, anders als für Negel (s. u.), keine »supererogatorische Leistung«, sondern gehört zum »ganz normalen« Handeln entsprechend dem »regelgemäßen Vollzug jeglicher Liebesbeziehung« (329). Die Auferweckung des Gekreuzigten, ein »faktisches Ereignis mit eschatologischer Qualität«, ist die »Selbsthingabe des Geistes« (333) an Jesus Christus und an alle Menschen. Die Folge ist die Überwindung des göttlichen Zorns (der paradigmatische Ausdruck verletzter personaler Beziehungen) und eine neue Perspektive Gottes auf das, »was eine Person im Lichte des eschatologischen Handelns des Geistes an ihr sein wird« (336), außerdem die »raumzeitliche Vollendung der thetisch-konstitutiven Ordnung von Regelmäßigkeiten und ... zugleich die Antizipation der eschatologischen Vollendung dieses Regelwerkes, insbesondere der eschatologischen Überwindung des Todes«: Erlösung und Versöhnung (337).
Abschließend deutet Mühling einige ethische Implikationen an. Zur Näherbestimmung der christlichen Geschwisterliebe als (Selbst-)Hingabe kann eine Tugendethik dienen. Um nicht bei einer situativen Ethik stehen zu bleiben, bedarf es ferner der »Standardisierung oder Typisierung von Handlungssituationen« (352). Hier ist A. Ritschls Berufsbegriff hilfreich, wenn er durch den biblischen Begriff des Charismas ergänzt wird. Die Bestimmung der gesellschaftlichen Bedeutung der Zurechtbringung führt eine »Distinktion zwischen zurechtgebracht und nichtzurechtge-bracht« (354) ein, die durch jeden einzelnen Christen und durch die Gesellschaft laufe. Das ist eine schwerwiegende Einschränkung, denn nun gibt es Bereiche der Welt, für die gilt: nicht mit Gott versöhnt! Sodann wird die Zumutung der Doppelregel der Liebe durch die Lehre von den zwei Regimenten Gottes relativiert. Am Ende meint Mühling, dass ein »prinzipieller Pluralismus« die »notwendige Bedingung für die Kooperation von Gott und Mensch innerhalb des Handelns in Zurechtbringung ist« (354). Kann Gott also nur in weltanschaulich-pluralistischen Staaten zurechtbringend wirken? Dennoch stellt das Buch als Ganzes einen beeindru­ckenden Entwurf zur Versöhnungslehre dar.
Schon die Einführung zu Negels Buch benennt gravierende Probleme der christlichen Opfervorstellung. Jesu Tod, dieser »banale Justizmord« (20), erscheine geschichtlich denkenden Zeitgenossen wie zu einem »willfährig versöhnenden Opfergang stilisiert«, um seine »Widerständigkeit« zu verdecken (38). Denn Jesus war primär das Opfer des Machtkalküls politischer und religiöser Autoritäten. Das Auftreten Jesu, das zu seiner Verurteilung führte, habe be­stimmte soziale und ökonomische Gewaltzusammenhänge offengelegt. Die theologische Unterstellung eines ›Sühnewillens‹ übersehe dies und führe zu weiteren Opfern, besonders verheerend in gesellschaftlichen Zusammenhängen.
Die erste Studie, »Opfer als Heilswirklichkeit«, entfaltet, »was man seitens der christlichen Tradition unter dem Begriff ›Opfer‹ einmal hat verstehen können« (39). Sie folgt römisch-katholischen Prämissen und analysiert die Freiburger Dissertation Max ten Hompels, »Das Opfer als Selbsthingabe und seine ideale Verwirklichung im Opfer Christi« von 1920, am Beginn einer theologischen Neubesinnung auf den Opferbegriff, die ihre Terminologie nicht mehr aus den »starren Rastern« der scholastischen Kultallegorik, sondern aus einer »eher biblisch orientierten Existentialethik« (66) gewann. Für ten Hompel ist das Leben Jesu »eine einzige Opfergabe an den Vater« (205). Zugleich erkennt der Mensch in der Hingabe Jesu sein eigenes Wesen. Daraus folgt, dass das Opfer als Gabe an Gott nur als freiwillige personale Selbsthingabe des Menschen an seinen geschöpflichen Ursprung verstanden werden kann. Diese Selbsthingabe ist der »religiöse Urakt« (140). Als Aufstieg zu Gott entspricht er der absteigenden Bewegung Gottes zum Menschen. Jesu Hingabe bis zum Tod war keine »wehrlose Preisgabe«, sondern eine »souveräne Liebesgabe« (208) des Sohnes an den Vater. Sie hat jedoch auch eine passive Seite, so dass man ergänzend von einem »Ausgeliefertsein des Sohnes durch den Vater« (261) sprechen muss. Negel ergänzt ten Hompels anthropologische, christologische und eucharistische Bestimmungen des Opferbegriffs durch lehrreiche Ausflüge in die Theologiegeschichte (Irenäus, Augustin, Anselm) sowie »Ansätze theologischer Fortführung« im 20. Jh. (Przywara, Rahner, von Balthasar, Schwager, ökumenische Erklärungen zur Eucharistie).
Die zweite Studie, »Opfer als Symptom unerlöster Lebenszusammenhänge«, widmet sich dem neuzeitlichen Plausibilitätsverlust der traditionellen Heilssymbolik. Für Nietzsche, Marx und Freud ist religiöse Praxis (und theologische Lehre) ein Ausdruck von Ressentiment, Ideologie und Wunschdenken. Weniger scharf ur­teilt Girard, dessen Kultur- und Religionstheorie die christliche Opfervorstellung mit der Liebe Gottes kontrastiert und »den zur Zeit bedenkenswertesten Einspruch« (476) formuliert. Die dritte Studie, »Opfer als fundamentales Theologoumenon«, formuliert eine vorläufige Antwort. Wir haben es mit einem »höchst ambivalenten Phänomen« zu tun, in dem »sowohl Heil als auch Unheil« beschlossen liegen (43). Negels Ziel ist es, sowohl »das Kreative als auch das Destruktive des Opfers« (564) anzuerkennen. Für die »Grundformel jeglicher Opfertheologie« greift er auf eine These seines Lehrers Leo Langemeyer zurück: »Leben lebt vom Leben, ohne dieses Gesetz gibt es kein Leben« (564).
Das Ergebnis ist angesichts der Fülle des Materials und der Berücksichtigung unkonventioneller Denker wie Georges Bataille und Christoph Türcke mager. Die Beurteilung der Heilsbedeutung des Todes Jesu könne »vermutlich nur dezisionistisch« im Sinne eines »reflektierten Fideismus« erfolgen (44, vgl. 578). Dafür möchte Negel Argumente bereitstellen. Deren Grundlage ist die These, »dass wir es beim Begriff des Opfers mit einem Theologoumenon zu tun haben, das in der ontischen Struktur menschlichen Daseins selbst fundiert und insofern unabschließbar ist« (44). In Anlehnung an die johanneische Christologie schlägt Negel vor, dass Jesus »seinen Gang ins Unvermeidliche aus einer Haltung liebender Treue zu seiner Sendung beschritten« hat (221). In ihr komme »zur höchs-ten Entfaltung, worauf das geschöpfliche Personsein des Menschen angelegt ist und worin es seine spezifische Erfüllung findet: in Gott zu leben von Gott für Gott« (330). Jesu Handeln wirke dabei erlösend, weil und indem er die heillose Situation des Sünders mitträgt, um ihn dadurch »zu befähigen, die schuldhafte Vergangenheit ›aufzuarbeiten‹« (332).
Negel beweist Mut zu Aporien. Mit seiner anthropologischen Be­gründung kommt er aber höchstens zu einer christologischen und eucharistisch bestimmten »Überformung« (581) des menschlichen Opferhandelns. Unterbelichtet bleibt, dass in Jesus Christus der Gott (der Sohn) sich hingibt und der Grund der Erlösung ist (so Mühling, 325). Eine biblisch fundierte Symbolhermeneutik, die Negel als vierte Studie nur andeutet, könnte weiterführen. Dazu reicht es aber nicht, eine »Phänomenologie des Heiligen« (55) zu entwerfen und mit biblischer Begrifflichkeit zu überformen. Insgesamt ist das Buch ein »Torso« (13) oder besser: ein Steinbruch, der zur Bearbeitung einlädt.