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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

829–831

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Cordes, Harm

Titel/Untertitel:

Hilaria evangelica academica. Das Reformationsjubiläum von 1717 an den deutschen lutherischen Universitäten.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 361 S. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 90. Geb. EUR 52,90. ISBN 978-3-525-55198-1.

Rezensent:

Marcel Nieden

Der Countdown läuft. Bis 2017 sind es noch knapp zehn Jahre. Dann steht für den deutschen wie internationalen Protestantismus ein großes Jubiläum an: 500 Jahre Publikation der 95 Thesen Martin Luthers. Ungeachtet aller Debatten um den Epochencharakter der Reformation oder die Faktizität des Thesenanschlags wirft das Ereignis schon jetzt seine Schatten voraus. Für die an Memorialkultur und Rezeptionsgeschichte derzeit verstärkt interessierte deutsche Kirchengeschichtsschreibung stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage: Wie haben eigentlich andere Jahrhunderte des Jahres 1517 gedacht? Zu den Jubiläen von 1617, 1817 und 1917 wurde schon im 20. Jh. eingehend gearbeitet. Was fehlt, ist eine umfassendere Studie zum Reformationsjubiläum von 1717. Mit der Mainzer kirchenhistorischen Dissertationsschrift »Hilaria evangelica academica« liegt diese Studie jetzt vor. Harm Cordes hat sie geschrieben (Promotor: G. A. Benrath).
C. geht an das Thema mit einer durchaus sinnvollen Eingrenzung heran: Er konzentriert sich auf die Jubiläumsfeierlichkeiten an den »zwölf lutherischen Universitäten im deutschsprachigen Raum, die als repräsentativ für das deutsche Luthertum angesehen werden können« (19). Im Einzelnen handelt es sich um: Wittenberg, Leipzig, Jena, Tübingen, Rostock, Greifswald, Kiel, Königsberg, Helmstedt, Gießen, Halle/S. und Altdorf (ein Blick auf Rinteln und Straßburg hätte das Bild allerdings noch abgerundet). Außeruniversitäre Feiern der Kirchen und Gemeinden werden von ihm nur insoweit berücksichtigt, wie sie mit den akademischen Feierlichkeiten in direktem Zusammenhang stehen.
C. hat viel Material geschürft und verdienstvoll in einem ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis zusammengestellt. Dankenswerterweise hatte einer der maßgeblichen Initiatoren des Jubiläums in Deutschland, der Gothaer Oberkonsistorialrat Ernst Salomon Cyprian, post festum eine umfassende Jubiläumsdokumentation veranstaltet, die gleichsam als Vademekum zu den teilweise seltenen Quellen dienen konnte (Hilaria Evangelica oder theologisch-historischer Bericht vom andern evangelischen Jubel-Fest …, Gotha 1719). C. beabsichtigt, aus seinem Material nichts Geringeres als eine »Beschreibung von Zustand und Selbstverständnis des Protestantismus in einer bestimmten historischen Epoche zu erheben« (10). Konkret möchte er herausfinden, welches Gewicht lutherische Orthodoxie, lutherischer Pietismus und Aufklärung im Jahr 1717 gewonnen haben. Er fragt darüber hinaus aber auch nach der in den akademischen Jubiläumsschriften erkennbaren Tendenz der Reformations- und Lutherdeutung.
Die Antwort wird in zwei Schritten erarbeitet. Zunächst be­schreibt C. im Überblick die Planungsphase (Kapitel II) sowie den Verlauf der Feierlichkeiten an den besagten zwölf Universitäten (Kapitel III). Dann werden die Jubiläumsschriften in thematisch-systematisierendem Zugriff auf bestimmte methodische, historische und theologische Aspekte hin befragt: auf den Umgang mit der Bibel, auf die Darstellung von Vorgeschichte, Verlauf und Wirkung der Reformation, insbesondere auf die zu Grunde liegende Luther-Deutung (Kapitel IV) sowie auf den Zustand der gegenwärtigen Kirchen (Kapitel V). Was kommt dabei heraus?
Die von der Gesamtgewichtung her notwendig knappen, etwas holzschnittartigen Verlaufsskizzen lassen erkennen, dass die Feierlichkeiten zum 31. Oktober 1717, was die Performanz betrifft, an den einzelnen Universitäten sehr unterschiedlich ausfielen. Das Spektrum reicht von einem weite Teile der städtischen Gemeinden einbeziehenden, mehrtägigen Festakt mit Prozession (unter Mitführung eines von Luther benutzten Katechismus-Exemplars!) in Rostock bis hin zu einer einzelnen bescheidenen Feierstunde in Altdorf. C. verweist zur Erklärung dieses freilich nicht allzu überraschenden Tatbestandes vor allem auf die Motivation und den Einfluss der regional tätigen Organisatoren. Daneben dürfte aber sicher auch die konfessionspolitische Haltung der jeweiligen Landesherrschaft eine Rolle gespielt haben. Im Unterschied zu 1617 waren nicht mehr alle lutherischen Reichsstände von der Notwendigkeit einer Jubiläumsfeier von vornherein überzeugt. Die Reformierten lehnten offenbar aus Gründen konfessioneller Selbständigkeit Gedenkfeierlichkeiten in diesem Jahr überhaupt ab. So wurde die Zweihundertjahrfeier des Thesenanschlags im Unterschied zu 1617, aber auch zu 1817 faktisch eine rein lutherische Angelegenheit, deren Ausgestaltung weitgehend den einzelnen Reichsständen überlassen blieb.
Wie die inhaltliche Analyse der Jubiläumsschriften zeigt, hielten sich die lutherischen Autoren, abgesehen von der Wiederholung einiger Stereotypen, mit polemischen Spitzen gegenüber der römisch-katholischen Kirche, ja überhaupt mit expliziten Stellungnahmen zur zeitgenössischen politischen und kirchlichen Lage weitgehend zurück, was C. vor allem mit der Bindung an das im Vorfeld ausgegebene kaiserliche Friedensgebot erklärt.
Das vorgetragene Verständnis der Person Luthers sowie der Reformation bewegte sich in den überkommenen Bahnen lutherisch-orthodoxer Deutungsmuster. Mittelalter und zeitgenössischer Katholizismus wurden nach wie vor in verfallstheoretischer Perspektive beschrieben, um die Reformation in ihrer geschichtlichen Notwendigkeit herauszustellen. Man suchte auch noch zu Beginn des 18. Jh.s, Luther als »ein von Gott bestimmtes Werkzeug« (195), als weissagenden »Wundermann« (vgl. 208) aus biblischen und außerbiblischen Quellen zu erweisen. Eine kritische Sicht des Reformators ist allenfalls in Spuren nachweisbar. Das Wirken anderer Reformatoren wurde fast vollständig ausgeblendet. Vertreter von Pietismus und Aufklärung (Halle/S.) hielten sich bei dieser überwiegend von orthodoxen Kräften vorangetriebenen Jubiläumsfeier auffallend im Hintergrund.
C.s Untersuchung erbringt manch beachtenswertes Resultat. Auf zwei Grenzen der Arbeit ist allerdings hinzuweisen: Zum einen: Die dem Forschungsvorhaben insgesamt zu Grunde liegende Annahme, Reformationsjubiläen seien »aussagekräftige Mo­mentaufnahmen und Zustandsbeschreibungen des Protestantismus« (18), wird nirgends problematisiert. Inwieweit das aus der Quellenanalyse ge­wonnene Ergebnis (»Vorherrschaft der lutherischen Orthodoxie, neben der nur vereinzelt der lutherische Pietismus als zeitgenössische Reformbewegung hervortritt« [308]) geeignet ist, dergleichen Annahmen zu bestätigen, scheint doch sehr fraglich.
Zum andern: Ein Interpretationsgang, der Texte so unterschiedlicher literarischer Gattungen wie akademische Rede, wissenschaftliche Abhandlung, Fest-Gedicht, Disputation oder Predigt berührt, ohne deren sozio-kulturelle Einbettung zu berücksichtigen, ist schwerlich differenziert genug ausgefallen. Welche Er­kenntnisse sich einer gattungsspezifischen Betrachtungsweise aufgetan hätten, deutet C. immerhin an einer Stelle an (vgl. 216). Hier dürfte sich ein zweiter Blick auf »die akademischen Jubiläumsschriften« (20 u. ö.) lohnen. So bleibt das Thema »Reformationsjubiläum 1717« der Forschung trotz der eingehenden Untersuchung von C. wohl weiterhin erhalten. Aber bis 2017 ist es ja noch etwas hin.