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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

810–812

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Roh, Taeseong

Titel/Untertitel:

Der zweite Thessalonicherbrief als Erneuerung apokalyptischer Zeitdeutung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Fribourg: Academic Press Fribourg 2007. 140 S. gr.8° = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 62. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-525-53963-7 (Vandenhoeck & Ruprecht); ISBN 978-3-7278-1579-9 (Academic Press Fribourg).

Rezensent:

Paul Metzger

In seiner schmalen Studie versucht Taeseong Roh, auf den Vorschlag seines exegetischen Lehrers Gerd Theißen hin, den »konkreten geschichtlichen Kontext und Hintergrund« (10) des 2Thess zu erhellen. Damit nimmt er sich einer schwierigen Aufgabe an. R. geht ohne Diskussion der Authentie oder der Datierung des 2Thess davon aus, dass es sich um einen pseudepigraphen Brief handelt, der um 70 n. Chr. entstanden sei. Der Verfasser des 2Thess sehe sich »mit dem Glauben an eine realisierte Eschatologie konfrontiert – also mit der Behauptung, die Parusie sei schon geschehen« (12 f.), von der Gemeinde aber verpasst worden. Damit gelingt R. ein spannender Auftakt: Wie kann eine Gemeinde glauben, sie hätte das Ende der Welt verpasst? Diese Frage will R. im Fortgang seiner Untersuchung klären.
In der Einleitung (9–31) lehnt er es ab, den 2Thess als Korrektur oder Ersatz des 1Thess anzusehen. Gegen A. Lindemann, W. Trilling und viele andere hält er es für wahrscheinlicher, »dass der Verfasser des zweiten Briefes von vornherein seinen Brief als Ergänzung des ersten konzipiert hat« (17). Dass er dem 1Thess gerade in Bezug auf sein Hauptthema, die Eschatologie, widerspricht, hängt laut R. mit der Genese von 2Thess 2,1–12 zusammen, der er sich im zweiten Hauptteil widmet. Die auffällige Orientierung des 2Thess am 1Thess in Vokabular und Struktur erklärt er als »Rekapitulation« (20), durch die bei den Adressaten in Thessalonich und ganz Makedonien, denen der 1Thess bekannt war, die Echtheit des 2Thess suggeriert werden solle (21). Der Abfassungsort des 2Thess sei außerhalb von Thessalonich zu suchen, wahrscheinlich in Philippi, da Polykarp 11,3 f. auf den 2Thess anspiele. Allerdings sind die angeführten Polykarpzitate zu allgemein, um als eindeutige Bezugnahmen auf den 2Thess gewertet zu werden. Davon abgesehen sind sie keine Argumente für die Entstehung des 2Thess in Philippi.
Im zweiten Hauptteil seiner Untersuchung (32–127), der 2Thess 2,1–12 behandelt, erkennt R. zunächst »eine interessante temporale Struktur …, aus der man erste Hinweise auf eine Traditionsgeschichte hinter dem Text entnehmen kann« (32). Es handle sich um eine eschatologische Lehre, die nicht kohärent dargeboten sei, sondern den Eindruck erwecke, korrigiert worden zu sein. Wäre der Text in einem Guss entstanden, dürfe man erwarten, dass die Ereignisse der Endzeit chronologisch geordnet präsentiert worden wären. Die Endgestalt des Abschnitts sei also ein sicheres Indiz dafür, dass »die jetzige Reihenfolge … nach und nach durch Hinzufügungen entstanden« (70) sei. Dabei übersieht R., dass die Struktur des zweiten Kapitels kunstvoll um das Hauptargument des 2Thess, das Katechon, komponiert wurde.
Seine These versucht R. zu begründen, indem er die Vorgeschichte der eschatologischen Tradition (33–85) skizziert. Als Ausgangsthese vermutet er, dass eine vorgegebene Lehre »zwei nachträgliche Korrekturen« (33) erfahren habe. In V. 5 hätte ein dem Wahrheitsethos sich verpflichtet fühlender Paulusschüler seinem Lehrer authentische Worte in den Mund gelegt (54), die auf dessen zweiten Besuch in Thessalonich – zur Zeit des Nero – zurückgingen (55). Abgesehen davon, dass ein solcher zweiter Besuch des Paulus in Thessalonich nicht belegt werden kann, ist diese Annahme unwahrscheinlich, da sie die Funktion von V. 5 verkennt, der die Authentie des Briefes mit Hilfe eines rhetorischen Stilmittels sichert. Ausgehend von authentischer Paulusüberlieferung weist R. im Folgenden verschiedene Schichten des Abschnitts auf. Bei dem vorausgesetzten zweiten Besuch in Thessalonich habe Paulus seine ursprüngliche Gegenwartsdeutung mit dem Hinweis auf das Katechon korrigiert. Paulusschüler hätten dann noch zweimal Korrekturen angebracht, bis schließlich zur Zeit Vespasians der Abschnitt seine Endgestalt erhalten habe.
Obwohl R. meint, den Text so sezieren zu müssen, weist er dennoch darauf hin, dass die Endgestalt des Textes »eine sinnvolle Sequenz« aufweist, an der sich der Erstleser ausschließlich orientiert habe (75). Deshalb schreitet R. im Folgenden zur synchronen Betrachtung des Textes. Der im 2Thess ausdrücklich als noch ausstehend bestimmte Abfall ist nach R. schon eingetreten. Da nämlich der Katechon mit Nero zu identifizieren (100) und dieser bereits verschwunden sei, stehe lediglich noch die Vernichtung des Widergottes aus (86). Da Paulus bei seinem ersten Besuch mit dieser Figur auf Caligula angespielt habe, zielten seine Schüler laut R. ebenfalls auf einen römischen Kaiser ab (88). Da der Brief auf das Jahr 70 zu datieren sei (20 f.), komme nur Vespasian in Frage.
Unter dieser Prämisse untersucht R. die zuvor ausgelassenen Verse 9–12 und kommt zu dem Ergebnis, dass die dort zu findenden Beschreibungen des Widergottes gut auf Vespasian passen. Dies ist freilich kaum verwunderlich, da sie so allgemein gehalten sind, dass sie auf fast jeden Kaiser zutreffen. Für R. steht damit aber fest, dass der Aufstieg der Flavier der geschichtliche Hintergrund des 2Thess ist (108). Der 2Thess verkünde das Evangelium Christi als Gegenbotschaft zur Propaganda der Flavierdynastie (116). So rekurrierten z. B. Mk 13 und 2Thess 2 auf dasselbe geschichtliche Ereignis, wobei 2Thess 2 eine frühere Tradition spiegele (120). Die Parole der Gegner des 2Thess, die in 2,2 angeführt wird, beziehe sich deshalb auf die Ankunft Vespasians als Herrscher der Welt am 1. Juli 69, der als dies imperii gefeiert wurde. Dagegen setze der 2Thess die Botschaft, dass allein Christus der Herr und noch nicht wiedergekommen sei (123).
Ein knappes Literaturverzeichnis und ein Stellenregister schließen die Arbeit ab.
R. legt mit seiner Untersuchung des geschichtlichen Hintergrunds von 2Thess 2,1–12 einen sicherlich originellen Beitrag zur Forschung vor. Da seine Auffassung und seine Voraussetzungen nicht im Einzelnen diskutiert werden können, seien lediglich die wesentlichen Kritikpunkte benannt. Zum einen vermag seine Theorie der Textgenese nicht zu überzeugen, da die Indizien, die er sowohl für die Literarkritik als auch für die Zuordnung einzelner Schichten zu spezifischen Zeitepochen anführt, m. E. zu spekulativ und beliebig sind. Zum anderen übersieht R., dass der 2Thess nicht über die Identität des Herrn diskutiert, dessen Tag angebrochen sein soll, sondern lediglich über den Zeitpunkt des Anbruchs. Der »Tag des Herrn« dürfte, wie zuletzt N. Wendebourg gezeigt hat (WMANT 96, Neukirchen-Vluyn 2003), zur Zeit des 2Thess ein geprägter Begriff für den Tag Gottes bzw. Christi sein. Dass Christen geglaubt haben sollen, das Ende des Äons verpasst zu haben, ist wenig wahrscheinlich. Schließlich erfasst R. den Charakter des Katechon nicht richtig. Dieses wird nicht »durch den Herrn« (70) vernichtet, sondern muss bereits untergegangen sein, damit die Offenbarung des Widergottes erfolgen kann (2Thess 2,7). Die Entfernung des Katechon hat den unmittelbaren Ausbruch der Gesetzlosigkeit und die unmittelbare Offenbarung des Widergottes zur Folge.
Im Schlusswort nimmt R. ganz knapp eine interessante Frage auf, die er bereits zu Beginn seiner Untersuchung aufgeworfen hat: Wie soll man theologisch mit Texten umgehen, die eine apokalyptische Zeitdeutung vorlegen, die sich mittlerweile als falsch herausgestellt hat? Hier wären weitere Überlegungen sehr interessant gewesen.