Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

803–806

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haarmann, Michael

Titel/Untertitel:

»Dies tut zu meinem Gedenken!« Ge­denken beim Passa- und Abendmahl. Ein Beitrag zur Theologie des Abendmahls im Rahmen des jüdisch-christlichen Dialogs.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004. 386 S. 8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 3-7887-2046-8.

Rezensent:

Wolfgang Kraus

Lange Zeit habe ich es vor mir hergeschoben, diese Rezension zu schreiben und abzuschicken, denn ich halte die systematisch-theo­logische These, wonach christliche Theologie von der Tradition des Gedenkens im Judentum sehr viel lernen kann, für unbestreitbar richtig und stimme dem Grundanliegen H.s durchaus zu. Die neutestamentliche und judaistische Grundlegung, die er in seiner Arbeit bietet, erscheint mir jedoch historisch und exegetisch äußerst fragwürdig. H. will die früheren konfessionellen Streitigkeiten um das Abendmahl, die das heutige Abendmahlsverständnis teilweise noch prägen, durch einen Rückgang auf die neutestamentliche Tradition im Kontext der gesamten biblischen Tradition überwinden (so ausdrücklich S. 13) und will dabei auch die jüdische Passaüberlieferung, ohne die die neutestamentliche Tradition nicht recht verstanden werden kann, mit einbeziehen.
Die Arbeit, die als Dissertation an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal angenommen wurde, enthält drei Hauptabschnitte mit insgesamt zwölf Unterabschnitten: Nach einer Einleitung (11–36) geht es um »1. Gedenken und Passamahl – Biblische Grundlagen und jüdisches Verständnis« (37–171), »2. Gedenken und Abendmahl – Systematisch-theologische Positionen im 20. Jh.« (172–268), »3. Passamahl und Abenmahl – Mahlfeiern des Gedenkens« (269–358). Literaturverzeichnis und Register schließen die Arbeit ab (359–386).
Schon im Einleitungskapitel wird deutlich, worauf H. hinauswill: Er argumentiert historisch und will daraus systematisch-theologische und sogar praktisch-theologische Konsequenzen ziehen (so vor allem am Schluss der Arbeit). »Im Hören auf das biblische Zeugnis findet diese Arbeit das Abendmahl begründet in seiner Einsetzung durch Jesus Christus: ›Dies tut zu meinem Gedenken!‹ (Lk 22,19; 1Kor 11,24 f.).« (31) »Diese Arbeit will zeigen, dass sich für das christliche Abendmahlsverständnis weitreichende Konsequenzen ergeben, wenn der jüdische Kontext des Abendmahls, das Passamahl, ernstgenommen wird.« (35) Als theologische Aussage leuchtet diese These unmittelbar ein. H. versteht sie jedoch, wie aus dem folgenden 2. Hauptteil unübersehbar deutlich wird, als historische Aussage, und das scheint doch sehr fragwürdig. Der Befund im Neuen Testament ist differenzierter, als H. behauptet: »Der Zusammenhang von Passa und Abendmahl ist uns im Neuen Testament vorgegeben.« (40, kursiv im Original) Das trifft auf der Ebene der Redaktion der Synoptiker sicher zu, aber stimmt es auch für Jesus selbst? H. geht ohne intensive Diskussion davon aus, dass die Anamnesis-Weisung auf Jesus selbst zurückgeführt werden kann, und fragt nach dem Kontext, in dem sie zu verstehen sei (32 f.). Aber können wir (mit J. Jeremias) davon ausgehen, dass Jesus sie wirklich gesprochen hat? Welche zeitliche Erwartung müsste Jesus dann gehabt haben? Hat er mit einer Zwischenzeit gerechnet, in der die Jünger seiner (täglich, wöchentlich oder jährlich – Letzteres wäre beim Passakontext wohl der zeitliche Rahmen) gedenken? Diese Problematik wird von H. gar nicht angesprochen. Deshalb werden auch all jene Exegeten, die den historischen Zusammenhang von Abendmahl und Passa problematisieren, zugleich noch einer anderen Fehldeutung geziehen: »Indem die vorliegende Arbeit den integrierenden Zusammenhang sieht, in dem das Abendmahl Jesu steht, unterscheidet sie sich grundlegend von den Versuchen, die das Abendmahl möglichst scharf vom Judentum und somit auch vom Passa abzugrenzen suchen und jeden inhaltlichen Bezug leugnen.« (44) Das ist eine waghalsige Unterstellung! Sie vermischt zwei voneinander zu trennende Sachverhalte! Den Passarahmen des letzten Mahles Jesu zu problematisieren und das Abendmahl vom Judentum scharf abzusetzen, sind (abgesehen von der Pauschalität der Aussage) doch wohl zwei Dinge.
Dass die Datierung des letzten Mahles Jesu in der Forschung umstritten ist und ein zeitlicher Zusammenhang mit dem Passamahl nur bei den Synoptikern explizit hergestellt werden kann, weiß H. Aber die Behauptung, die Datierung des Johannesevangeliums sei »theologische Interpretation der synoptischen Überlieferung« (43, teilweise kursiv im Original), würde man sich doch näher begründet wünschen. H. hält sich bei den historischen Fragen im Wesentlichen an J. Jeremias. Neuere Arbeiten zur Datierung des Todes Jesu werden kaum wahrgenommen. Die umfassenden Analysen von August Strobel (Ursprung und Geschichte des frühchristlichen Osterkalenders, TU 121, 1977; vgl. aber schon ders., Der Termin des Todes Jesu, ZNW 51 [1960], 69–101) übergeht er. Behauptungen wie die folgende helfen aber bei historischen Fragen kaum weiter: »Auch dann, wenn die johanneische Chronologie für zutreffend gehalten wird, steht das Abendmahl im Kontext des Passamahls. Lediglich der historische Haftpunkt und der theologische Schwerpunkt haben sich von der gemeinsamen Mahlzeit auf (Christus als) das Passalamm verlagert. Man müsste schon in einem weiteren Schritt das Abendmahl ganz aus dem Kontext von Passion und Auferweckung herauslösen, um im Johannesevangelium eine Beziehung zum Passa zu leugnen.« (52, Anm. 41, kursiv im Original) Ist die Formulierung »im Kontext des Passamahls« präzise genug, um hier weiterzukommen? Was ist mit der Aussage »eine Beziehung zum Passa« gemeint, so dass es historisch etwas austrägt? Das Hauptargument für die synoptische Chronologie – und es geht immer um die historische Basis für künftige theologische Argumentation! – liegt nach H. darin, dass sich kein Grund denken lässt, der eine nachträgliche passa-theologische Überformung der Abend­mahlsüberlieferung rechtfertigen könnte (52 f.). Im Gegenteil! Historisch denkbar wäre in der Tat auch der Versuch, das Passa durch neue (christliche) Inhalte zu besetzen, um damit Identität zu ermöglichen. Dann wäre die passa-theologische Überformung gerade Ausdruck des Auseinandergehens der Wege von Christentum und Judentum. Der Festtermin bleibt, die Inhalte wandeln sich.
Wichtiges Argument gegen ein letztes Mahl Jesu als Passamahl sind jedoch die fehlenden Passa-Bezüge bei den Einsetzungsworten. Jesus deutet mit Brot und Wein Bestandteile jedes festlichen jüdischen Mahls. Aber diese Frage wird von H. nicht diskutiert, wie überhaupt methodisch in diesem entscheidenden Abschnitt die Unterscheidung von Tradition und Redaktion völlig unterbleibt. Den von H. genannten Gegenargumenten gegen seine Datierung (56 ff.) werden lediglich die bekannten Argumente von J. Jeremias entgegengestellt.
Wenn nun aber der Zusammenhang von Passa und Abendmahl nicht auf den irdischen Jesus zurückgeführt werden könnte, was würde das für die vorliegende Arbeit bedeuten? Sie müsste dann von der Tatsache ausgehen, dass in der nachösterlichen Abendmahlsüberlieferung dieser Zusammenhang erst hergestellt wurde. Ob ein Zusammenhang der Abendmahlsüberlieferung mit dem Passamahl bereits bei Paulus vorliegt, scheint mir auf Grund von 1Kor 5,7 zumindest fraglich. Sicher liegt der Zusammenhang bei den Synoptikern vor. Johannes halte ich, was das Abendmahlsverständnis angeht, für komplizierter, als H. es darstellt. Doch damit bewegten wir uns in jedem Fall auf der Ebene redaktionsgeschichtlicher Forschung. Man könnte dann nicht mit dem irdischen Jesus argumentieren. Ich hielte das für keinen prinzipiellen Nachteil, aber H.s Argumentation müsste dann anders aussehen. Hätte er nicht selbst den Rekurs auf den irdischen Jesus als entscheidendes Argument eingeführt, könnte man ihm einiges nachsehen.
In den Unterabschnitten 3 und 4 geht es um Gedenken im Alten Testament und im Judentum und um Gedenken in der Passafeier im Judentum. Die Probleme mit der Datierung jüdischer Traditionsliteratur sind allenthalben bekannt. Das betrifft in erheblichem Maß die Passafeier im Frühjudentum. H. nennt die Warnung von G. Stemberger zur Vorsicht bei der Liturgie der Passafeier im Frühjudentum, aber beherzigt er sie wirklich? Ich kann nicht nachvollziehen, was es historisch austragen soll – und darum geht es ihm erneut –, die jüdische Diskussion in der Zeit nach 70 n. Chr. bis in die Gegenwart zu verfolgen. Für das Verständnis des Passa im Judentum bietet H. viele interessante Beobachtungen – aber das ist ja nicht das erklärte Ziel der Arbeit. Am Schluss von Unterabschnitt 4, nachdem er breit entfaltet hat, wie im Judentum Pesach gefeiert wird und was es mit dem Afikoman auf sich hat, fragt H.: »Was bedeutet diese Interpretation [des Afikoman] für das Verständnis der Abendmahlsworte Jesu?« Und er antwortet: »Daube hat darauf hingewiesen, dass Jesu Wort zum Brot ›Das [ist] mein Leib‹ auf diesem Hintergrund als eine messianische Selbstprädikation Jesu zu verstehen ist. Die Mazze steht für den Messias, für den Kommenden« (141, kursiv im Original). Das ist m. E. selbst Haggadah, aber nicht mehr historische Argumentation. Haggadah ist gut und berechtigt – aber es entspricht nicht dem Arbeitsziel von H.
In den Unterabschnitten 5 und 6 des ersten Hauptteils geht es um Gedenken im Judentum der Gegenwart und um Gedenken im Neuen Testament. H. zeigt, welchen Stellenwert das Gedenken bei jüdischen Autoren der Gegenwart hat und wie es nicht rückwärtsgewandt als Erinnern verstanden werden darf, sondern Vergegenwärtigen im Sinn von Identitätsfindung der gegenwärtig Lebenden bedeutet, und wie Gedenken im Neuen Testament keinesfalls historisierend oder intellektualistisch missverstanden werden darf.
Mit Unterabschnitt 7 beginnt der zweite Hauptteil: »Gedenken und Abendmahl – systematisch-theologische Positionen im 20. Jh.«, wo zunächst ein Überblick über die Abendmahlsdiskussion im letzten Jahrhundert geboten wird und sodann drei repräsentative Positionen näher vorgestellt werden: M. Thurian, K. Barth und J.Moltmann. Der dritte Hauptteil, Passamahl und Abendmahl – Mahlfeiern des Gedenkens, versucht die Linien zusammenzuführen, systematisch-theologische und schließlich praktisch-theologische Konsequenzen zu ziehen. Dabei spielen Fragestellungen, die im jüdisch-christlichen Dialog keineswegs unumstritten sind (z. B. Jesus als Messias Gottes und Messias Israels) eine wichtige Rolle. Hier eigentlich schlägt das systematisch-theologische Herz von H. Der Schlussabschnitt hebt darauf ab, dass nur bei einer Würdigung des Gesamtvorgangs des Abendmahls, weg von der Konzentration auf die Einsetzungsworte und die Elemente, das Abendmahl als »Gedenken zur Ehre Gottes« recht zur Geltung kommen kann (353ff.).
H. befasst sich mit einem ausgesprochen wichtigen theologischen Thema, das nicht nur im Kontext des christlich-jüdischen Diskurses von Bedeutung ist. Die Durchführung ist m. E. jedoch nicht gelungen. Der Versuch, durch Rekurs auf den irdischen Jesus und auf zeitlich schwer einzuordnende jüdische Quellen eine historisch zuverlässige Basis für gegenwärtige Argumentation zu erzielen, hat mich nicht überzeugt. Als Arbeit über Gedenken im Judentum und darüber, welche Impulse darin für christliches Abendmahlsverständnis liegen, hat sie ihren Wert.