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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

695–697

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nass, Elmar

Titel/Untertitel:

Der humangerechte Sozialstaat. Ein sozialethischer Entwurf zur Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XI, 323 S. gr.8° = Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, 51. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-149118-4.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Ausgehend von der Diagnose der gegenwärtigen Legitimationskrise des Sozialstaates stellt N. in seiner Definition dessen eigentliche Aufgabe folgendermaßen heraus: »Der liberal legitimierte Sozialstaat ist eine der Menschenwürde verpflichtete rechtsstaatliche Sozialordnung, die solidarisch, das heißt aufgrund einer gegenseitigen juristischen Verpflichtung ihrer Mitglieder, Eingriffe in die Verteilungsergebnisse des Marktes durchführt« (14). Für diese Aufgabe sucht die hier vorzustellende sozialwissenschaftliche Dissertation aus Bochum eine Begründung vorzulegen, die um die Be­griffe von Menschenwürde und Solidarität zentriert ist.
Bezüglich der grundlegenden Bedeutung der Menschenwürde kommt N. zu einer positiven Einschätzung, wenn sie objektiv im Naturrecht begründet wird, während er subjektiv fundierte Ansätze, zu denen er die Diskursethik rechnet, kritisiert: »Da der normative Individualismus die Formulierung allein hypothetischer Imperative zulässt, seine normative Grundlage aber mit der unbedingten Nutzenbindung legitimer Menschenwürde doch einen kategorischen Anspruch erhebt, tritt hier ein grundlegendes Kohärenzproblem zutage« (69).
Die Solidarität, die zweite Größe der Definition, beruht entweder auf freiwilliger Selbstbindung, um den individuellen Eigennutzen zu erhöhen, wie es in ihrer kooperationsgemeinschaftlichen Auslegung geschieht. Oder sie gründet in individuellen Anspruchsrechten gegenüber der Gesellschaft und wird dann solidaritätsgemeinschaftlich ausgelegt. Da die Erhaltung der Ordnung in der Kooperationsgemeinschaft von einem entsprechenden »Drohpotential abhängig« (80) ist, also die Gewaltbereiteren bevorzugt werden, scheidet N. diese Auffassung für einen Sozialstaat aus. Die Solidargemeinschaft dagegen kennt soziale Grundrechte, schafft positive Freiheit, steht jedoch in der Gefahr einer Ressourcenverschwendung, so dass die Einlösung sozialer Rechte oder der Wohlstand einer Gesellschaft in Gefahr stehen. Damit stellt sich die Frage, wie eine »Symbiose von sozialer Gerechtigkeit und Effizienz« (89) angestrebt werden kann.
Um eine Antwort darauf vorzubereiten, vergleicht N. im zweiten Teil seiner Arbeit wichtige Sozialstaatstheorien gemäß der grundsätzlichen Aufteilung der Paradigmen der Solidarität einerseits in ihrer kooperationsgemeinschaftlichen und andererseits in ihrer solidargemeinschaftlichen Auslegung. Zur ersten Gruppe zählt N. die libertäre Anspruchsgerechtigkeit, die konstitutionelle Ökonomik und den Utilitarismus. Die solidargemeinschaftlichen Sozialtheorien sieht er durch die Typen des liberalen Ressourcen­egalitarismus und den Einkommensegalitarismus verkörpert. Diese fünf Typisierungen stellt er jeweils in ihrer Grundidee dar, prüft sie auf ihre Konsistenz und auf ihre Kohärenz mit dem Menschenwürdeparadigma hin. Schließlich überprüft er sie hinsichtlich ih­rer Aufgabe, ob sie zu sozial gerechten Verteilungen führen.
Wie schon bei der Kritik an der kooperationsgemeinschaftlichen Auslegung der Solidarität deutlich wurde, beurteilt N. diese Versuche kritisch, da sie nur auf einen normalen Individualismus bezogen sind: »Die Ansätze behaupten in alternativen Varianten, das Wesen des Eigennutzes erkannt zu haben … Jeder der Ansätze wird somit dem anderen vorwerfen können, den Eigennutzen falsch zu interpretieren« (150). Den hier ausgemachten normativen Individualismus will N. mit Hilfe von neigungsunabhängigen Tugenden sprengen, um so die Pflichten zur Solidarität aus den Tugenden abzuleiten. Damit leitet er zu den beiden Versuchen solidargemeinschaftlicher Legitimation über: »Die Solidaritätsgemeinschaft will mit der Gewährung sozialer Rechte auch jenseits individueller Abwehrrechte eine positive Freiheit realisieren, die deontologisch einem objektivistisch begründeten Gleichheitsziel verpflichtet ist und sich deshalb nicht allein aufgrund einer Bewertung von Konsequenzen als legitim ausweisen kann« (153). Entsprechend untersucht N. den Kompensationsegalitarismus in seinen beiden Typen als liberalen Ressourcenegalitarismus und als Einkommensegalitarismus. Jedoch kommt er auch hier zu einer letzlich negativen Einschätzung, denn beide Theorien sieht er in einer Desolidarisierung enden: »Entweder wird der Egoismus im Rahmen eines kontraktualistischen Konstruktes an deontologische Vorgaben der Vernunft gebunden«, wie es N. dem liberalen Ressourcenegalitarismus zuschreibt, »oder er wird schlichtweg als Motivation für illegitim erklärt«, wie im Einkommensegalitarismus: »Die Potentiale zur Wohlfahrtsproduktion, die sich aus egoistischen Motiven herleiten lassen, werden damit konsequent vernachlässigt« (191). Zusammenfassend: Während den subjektivistischen Sozialstaatstheorien »eine konsequente normativ individualistische Legitimierung fehlt«, kritisiert N. an den objektivistischen Ansätzen, dass sie die Legitimität nicht konsequent aus einem Naturgesetz oder dem universal gültigen Sittengesetz ableiten (192). Damit ergibt sich für die Theorie eines humangerechten Sozialstaates die Forderung nach einem konsequent durchgehaltenen Legitimationsparadigma. Dieses führt N. im dritten Teil seiner Arbeit aus.
Den in der Arbeit immer wieder anklingenden Bezug auf das Naturrecht konkretisiert N. durch die Rezeption der klassischen katholischen Soziallehre, die auf aristotelischem Denken aufruht. Damit kann er seinen Ansatz pointiert charakterisieren: »Der hu­mangerechte Ansatz definiert in Anlehnung an die aristotelische Tradition soziale Gerechtigkeit solidargemeinschaftlich als grundrechtlichen Anspruch jedes Individuums auf die der Natur des Menschen gemäße positive Befähigungsfreiheit, die als realisierte Humanität (Lebensqualität) sozialen Frieden auf der Grundlage eines auch deontologisch motivierten Wir-Gefühls und Effizienz als daraus abgeleitete Optimierung individueller Verantwortungs- und Leistungsbereitschaft garantiert« (274).
Damit ist dieses Buch eine radikale Absage an den umverteilenden Sozialstaat, in dem die Bürger soziale Sicherheit von staatlicher Gewährleistung erwarten. Gleichzeitig sucht N. darzulegen, dass der Umbau des Sozialstaates zu mehr Eigenverantwortung nicht soziale Kälte bedeutet, sondern ein Klassengegensätze überwindendes Wir-Gefühl wecken könnte. Allerdings ist an dieser Stelle genau darauf zu achten, dass sich das Buch mit dieser Argumentation in die Tradition katholischer Soziallehre stellt und damit zur Überprüfung seiner grundlegenden Axiomatik herausfordert, die in der Behauptung eines zeitenthobenen Naturrechtes liegt. Hier liegt die Aufgabe einer evangelischen Sozialethik in ihrer Auseinandersetzung mit diesem Ansatz.