Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/1997

Spalte:

267 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Joestel, Volkmar

Titel/Untertitel:

1517, Luthers 95 Thesen. Der Beginn der Reformation.

Verlag:

Berlin: Brandenburgisches Verlagshaus 1995. 159 S. m. 15 Abb. gr.8° = Das Tagebuch Europas. Pp.. DM 34,­. ISBN 3-89488-089-9.

Rezensent:

Christian Peters

Der vorliegende Band steht deutlich im Zeichen des Luthergedächtnisses. Er widmet sich Luthers berühmten 95 Thesen "Von der Kraft der Ablässe", deren Abfassung und Veröffentlichung hier explizit als der Beginn der Reformation begriffen werden. Auf dieser Grundlage wird dann anschließend eine Rezeptionsgeschichte in Quellenauszügen geboten. Diese nimmt nicht nur die Thesen selbst, sondern auch deren "Geschichte" (also vor allem den "Thesenanschlag") in den Blick und reicht vom 16. Jh. bis in die unmittelbare Gegenwart (1991).

Dem Buch vorangestellt ist ein kurzer Vorspruch Friedrich Schorlemmers (Ein Wort ­ ein Hammerschlag). Ihm folgt ein umfänglicher Eingangsessay des Hg.s (Luthers "Thesenanschlag" ­ Ereignis, Wirkungen und Rezeption [9-55]). Er führt geschickt in die Situation des Jahres 1517 ein und bietet wichtige Informationen zur Biographie Luthers und zum Ablaßstreit. Die Interpretation der Thesen selbst fällt dann allerdings eher schmal aus (22 f.). Auch die durch den katholischen Lutherforscher Erwin Iserloh angestoßene Diskussion um die Historizität des "Thesenanschlages", eine der wichtigsten forschungsgeschichtlichen Debatten seit 1945, hätte hier sicherlich sehr viel ausführlicher dargestellt werden müssen (24 f.). Der zweite Teil des Essays (32 ff.) wendet sich den Wirkungen des "Thesenanschlages" (Einführung von Reformationstagen und -jubiläen) zu. Außerdem wird dessen Rezeption in Theologie, Philosophie und Literatur beleuchtet. Dabei kann der Hg. auf eine gerade in den letzten Jahrzehnten stark angewachsene Literatur zurückgreifen (vgl. dazu das Quellen- und Literaturverzeichnis [156-159]).

Das Hauptcorpus des Bandes bilden die Dokumente (Quellenauszüge): Zunächst werden 21 Texte zu den Ursachen und Folgen der 95 Thesen geboten (56 ff.). Sie berühren deren Vorgeschichte, die Umstände ihrer Veröffentlichung ("Thesenanschlag") und die Resonanz bei den Zeitgenossen. Darüber hinaus werden spätere Erinnerungen Luthers angeführt. Auch hier gibt es zwar wieder einschlägige Vorarbeiten (so vor allem Aland, Kurt: Die 95 Thesen Martin Luthers und die Anfänge der Reformation [GTB. Siebenstern 1406], Gütersloh 1983). Die getroffene Auswahl ist aber durchaus geschickt.

Anschließend wird dann in 54 Texten die Rezeption der 95 Thesen bis zur Gegenwart dokumentiert (91 ff.). Dies geschieht in fünf Rubriken: 1. Die Reformationszeit (16. Jh.) (Texte von Philipp Melanchthon, Johannes Mathesius, Johannes Cochläus, Kaspar Braitmichel und Giordano Bruno), 2. Vom Konfessionalismus zur Aufklärung (17./ 18. Jh.) (Texte von Wolfgang Franz, Friedrich Spanheim d. Ä., Gottfried Arnold, Johann Peter Ludewig, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Wolfgang Goethe, Johann Gottfried Herder und Charles Villers), 3. Das bürgerlich-idealistische Zeitalter (19. Jh.) (Texte von Friedrich von Hardenberg/Novalis, Friedrich Schleiermacher, Ernst Moritz Arndt, Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Hermann Riemann, Leopold von Ranke, Claus Harms, Joseph Görres, Georg Fried-rich Hegel, Ludwig Börne, Friedrich Engels, Heinrich von Treitschke, Rudolf Kögel, Friedrich Nietzsche, Jacob Burckhardt und Adolf von Harnack), 4. Im Zeitalter des Imperialismus (1900-1945) (Texte von Hartmann Grisar, Karl Holl, Anatole France, Emil Zeißig, Ricarda Huch, Ernst Bloch, Heinrich Boehmer, Otto Lerche, Stefan Zweig, Joseph Lortz und Dietrich Bonhoeffer) und 5. Lutherrezeption im Übergang zur Postmoderne (seit 1945) (Texte von Alexander Rüstow, John Osborne, Gerhard Ebeling, Jörg Baur, Erwin Iserloh, Otto Hermann Pesch, Helmut Kohl, Gerhard Brendler, Pfarrer Gottfried Keller und Friedrich Schorlemmer). Ob diese Überschriften jeweils glücklich formuliert sind, soll hier dahingestellt bleiben. Mit Sicherheit unzureichend sind aber die vom Hg. gebotenen Erläuterungen zu den einzelnen Verfassern. Sie bringen dem Leser fast nichts und dürften daher eher zu dessen Verunsicherung beitragen. Schon kurze biographische Artikel (zur Not auch im Anhang) hätten hier leicht Abhilfe schaffen können.

Völlig überraschend wird den Dokumenten dann noch eine kurze Editorische Notiz (154 f.) angefügt. Sie hätte eigentlich an den Beginn der Sammlung gehört. Der Hg. bekennt sich zur Subjektivität der von ihm gebotenen Zusammenstellung. Überdies sei, bedingt durch die Konzentration auf ein "Ereignis"[,] eine Trennung von "Wirkungsgeschichte" "Lutherbild" und "Rezeption" (Helmar Junghans) nur selten möglich gewesen. Dies erklärt dann wohl auch manche Unschärfen bei der Textauswahl.

Tatsächlich stellt sich nämlich bei mehreren der gebotenen Stücke die Frage, was diese denn eigentlich mit den 95 Thesen oder dem "Thesenanschlag" zu tun haben (vgl. dazu z. B. Nr. 33 oder Nr. 35). Auch die im Anschluß aufgeführten Editionsgrundsätze (154 f.) können nicht in jeder Hinsicht überzeugen: Ist der generelle Verzicht auf Fußnoten tatsächlich im Interesse des Lesers? Sind Fußnoten nicht sehr viel weniger störend als in spitzen Klammern in (!) die laufenden Texte eingerückte Erläuterungen des Hg.s? Und schließlich: Mußte den gebotenen Stücken tatsächlich künstlich ein fragmentarischer Charakter verliehen werden (155)? Daß diese in einen größeren Zusammenhang gehören, ist ja doch meist unmittelbar erkennbar.

Resümierend bleibt daher auch festzuhalten: Der vorliegende Band lädt zu einem instruktiven Gang durch die Rezeptionsgeschichte der 95 Thesen ein. Er ermöglicht einen raschen Zugriff auf viele bislang weitverstreute Texte (und stellt insofern einen Gewinn dar). Freilich hätte man sich gerade hier etwas mehr editorische Sorgfalt gewünscht. Weitgehend unberücksichtigt bleibt in dieser Sammlung leider auch die reiche ikonographische Tradition (der "Thesenanschlag" als Thema der bildenden Kunst!). Hier wäre mit Sicherheit noch manches zu holen gewesen.