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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

635–636

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hengel, Martin

Titel/Untertitel:

Der unterschätzte Petrus. Zwei Studien.

Verlag:

Tü­bingen: Mohr Siebeck 2006. X, 261 S. kl.8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-16-148895-5.

Rezensent:

Otto Böcher

Unter dem provozierenden Titel vom »unterschätzten« Apostelfürs­ten fasst Martin Hengel zwei Studien zusammen, die beide an­hand der neutestamentlichen Petrusbelege deutlich machen, dass Petrus in der Tat noch immer weitgehend unterschätzt wird – gewiss nicht im Sinne kirchlicher Traditions- und Legendenbildung, jedoch im Bereich kritisch-exegetischer Erforschung des »historischen Petrus«, seiner Biographie und Familie, seines Denkens und Wirkens sowie, nicht zuletzt, seines Verhältnisses zu Paulus.
Die erste Abhandlung, zurückgehend auf einen Vortrag in Rom vom November 2005, ist überschrieben »Petrus der Fels, Paulus und die Evangelientradition« (1–166). In ihr untersucht H. vor allem Herkunft und Bedeutung von Mt 16,17–19, ferner die Rolle des Petrus in der Zeit vor Matthäus, die Petrusschülerschaft des Markus, das Wirken des Petrus nach dem Jerusalemer »Apostelkonzil« (ca. 48/49 n. Chr.) und seinen Konflikt mit Paulus. Ein vorletzter Abschnitt fragt nach den »unbekannten Jahren« des Petrus sowie nach seiner »theologischen und missionarischen Bedeutung«; der letzte Abschnitt ist ein zehn Punkte umfassendes Fazit (162–166).
Die zweite Studie behandelt »Die Familie des Petrus und andere apostolische Familien« (167–220); sie stellt die erweiterte und überarbeitete Neufassung eines erstmals 1997 erschienenen Aufsatzes dar. Eine Zeittafel vom Auftreten Johannes des Täufers (ca. 27 n. Chr.) bis zu Irenäus von Lyon (ca. 180 n. Chr.) ermöglicht eine chronologische Orientierung (221–223); Register der Stellen, Autoren, Sachen und griechischen Begriffe (225–261), erstellt von Christoph Schaefer, beschließen den Band.
H. ist dafür bekannt, dass er exegetische Hyperkritik in ihre Schranken weist und wichtige neue Erkenntnisse (oder zumindest diskussionswürdige Fragen) auch aus solchen Belegen abzuleiten versteht, die nach allgemeiner Auffassung längst ausgewertet, be­langlos oder gar »unecht« sind. In der ersten Studie überrascht daher nicht, dass H. Mt 16,17–19 in der vorliegenden Form zwar nicht für jesuanisch, sondern für matthäisch hält, wohl aber in diesem Wort einen frühen Beleg für die überragende Rolle des Petrus schon zu Lebzeiten Jesu erblickt; der Beiname Kêphā’ ̉geht auf Jesus selbst zurück und ist wahrscheinlich mit »Fels«, nicht mit »Stein« zu übersetzen. Die Predigt des Petrus dürfte die Anfänge der vorpaulinischen Christologie und Soteriologie entscheidend ge­prägt haben. Die Tradition von der Petrusschülerschaft des Markus beurteilt H. als glaubwürdig. Den Konflikt zwischen Petrus und Paulus in Antiochien (Gal 2,11–21) hält H. für gravierender als zu­meist angenommen; er dürfte zu einem »nachhaltigen Bruch« zwischen den Aposteln geführt haben (92 f.), doch vermutet H., dass es »am Ende wieder zu einer Annäherung oder gar Versöhnung« beider kam« (158). Trotz deutlicher Spannungen ist das »gemeinsame ›apostolische Zeugnis‹« für die Kirche »einzigartig und – im vollen Sinne des Wortes – grundlegend« geworden (166).
Die zweite Abhandlung befragt zunächst das Markusevangelium sowie die Evangelien des Mt und Lk (H. spricht von »Logien­tradition« statt der hypothetischen »Logienquelle«, 174, Anm. 356) nach ihren Aussagen über Petrus und seine Familie. Im folgenden Abschnitt über »Paulus und die anderen Apostel« betont H. den Zölibat des Paulus; die gelegentlich begegnende These, Paulus sei verwitwet oder geschieden gewesen, diskutiert er nicht. Von »späteren Nachrichten über apostolische Familien« behandelt H. Philippus und seine Töchter (Apg 21,8 f.), auch in der Vätertradition, ferner das Ehepaar Priscilla und Aquila sowie die Eheleute Andronikos und Junias (Röm 16,7; Junias als Frauenname: 198, Anm. 417). Ein eigener Abschnitt ist Clemens Alexandrinus und dem Enkratismus gewidmet; »abschließende Überlegungen« (217–220) skizzieren noch einmal das Missverhältnis sicherer Kenntnisse zu legendarischen Ausformungen und den Einfluss späterer kirchlicher Eheauffassung auf den Umfang glaubwürdiger Überlieferung zu Ehe und Familie der ersten christlichen Missionare.
Beide Studien H.s gewinnen altbekannten neutestamentlichen Petrusbelegen durch eine bisher ungewohnte Beleuchtung neue Aspekte ab, die die künftige Petrusforschung wird berücksichtigen müssen. Petrus wird als Mensch, Theologe und Missionar »unterschätzt«, wo man ihn unkritisch zum ersten Papst ernennt, aber genauso auch da, wo man ihm hyperkritisch die früh bezeugte Vorrangstellung im Apostelkreis bestreitet und vorgibt, vom vormatthäischen Petrus nichts zu wissen. Die theologischen Spannungen zwischen Petrus und Paulus ernst zu nehmen und aufzuarbeiten, ist eine exegetische Aufgabe für alle Konfessionen; nur auf der Grundlage einer sachgemäßen Auslegung des gemeinsamen, petrinischen und paulinischen »apostolischen Zeugnisses« ist ein sinnvolles »ökumenisches Gespräch« möglich (166).