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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

246–248

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Minette de Tillesse, Gaetano (Gaetan)

Titel/Untertitel:

"Tu me verras de dos".

Verlag:

Jerusalém 1995 (für Europa: Leuven Édition Peters) = Theologie narrative de la Bible Revista Bíblica Brasilícira (RBB) 12 (1995). Numero spécial en français. Fortaleza, Editora Nova. 522 S. gr.8o. Lw. $ 40,­.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Der vorliegende Band ist die französische Übersetzung des portugiesischen, in der gleichen Reihe erschienenen Originals "O Deus pelos costas. Teologia narrativa da Bíblia" (Revista Bíblica Brasileira 12, Numero Especial 1-2-3), Fortaleza 1995 ­ vgl. die Besprechung des Rez. zu "Theologie und Hermeneutik des Alten Testaments", in: ThR 61 (1996 [48-102. 123-176], 59 f.)­ und stellt die für Europa bestimmte Version des ursprünglich frankophonen Autors dar. Beachtlich sind schon die Umstände, unter denen das Werk entstanden ist: Als Mitglied eines kleinen Ordens, der im armen Nordosten Brasiliens ein Institut zum Bibelstudium (Instituto Religioso Nova Jerusalém, Fortaleza) gegründet hat, arbeitet der Vf., ein Schüler Martin Noths (seit 1968 in Brasilien) unter Dritte-Welt-Bedingungen auf der Grundlage einer beschränkten wissenschaftlichen Bibliothek an einem biblisch-theologischen Entwurf. Dabei sucht er im Rahmen des Möglichen auch auf neuere Literatur einzugehen. Kein Wunder jedoch, daß seine eigentlichen Autoritäten die großen Namen der vorigen Generation sind: G. von Rad und Martin Noth. Unbefangen nimmt er auch die bei uns fast vergessenen Auseinandersetzungen der fünfziger und sechziger Jahre, insbesondere über den Sinn von Geschichte, zwischen F. Hesse und G. von Rad, zwischen der Bultmann-Schule und der heilsgeschichtlichen Theologie usw., wieder auf.

Ein gutes Drittel des Bandes umfaßt zunächst die ausführliche Einleitung, in welcher der Vf. einen forschungsgeschichtlichen Überblick über die Entwicklung des Faches nach dem Zweiten Weltkrieg gibt, viele bekannte Namen nennt, verbunden auch mit umfangreichen bibliographischen Überblicken (die überwiegend korrekt gedruckt sind, keine Selbstverständlichkeit!). Der Hauptzweck besteht jedoch darin, seinen eigenen Ansatz vorzubereiten. Dabei geht er von so fundamentalen Fragen aus, wie der, ob ein Katholik eine wissenschaftlich wertvolle biblische Theologie schreiben könne oder dies ein rein protestantisches Unternehmen sei (11-18). Daß dabei dem überzeugten Katholiken auch ein krasses Fehlurteil über die Reformation unterläuft (14), sei nur am Rande vermerkt: Tatsächlich war ja die Ansicht Luthers und der Reformatoren keineswegs «la négation de 1.500 ans de tradition chrétienne», sondern ihre Befreiung von eingerissenen Mißständen und einer entarteten Theologie und die Rückführung zu ihrem Ursprung, der Bibel! Die Trennung von der Großkirche geschah bekanntlich nicht freiwillig, sondern weil die damalige Hierarchie nicht mit Einsicht und Buße, sondern mit Exkommunikation reagierte. Gottseidank ist das Urteil (wenn auch nicht offiziell) längst revidiert, und es hat sich eine ökumenische Zusammenarbeit durchgesetzt, in der, wie der Vf. von Herzen anerkennt, die katholische Bibelwissenschaft in den Spuren der protestantischen mitgehen kann. Er will aber, auf dem Boden des Alten Testaments, auch das Gespräch mit dem Judentum führen, wobei von der ntl.-christlichen Interpretation zunächst abgesehen werden könne (vgl. auch 128 und die Position von R. Rendtorff). Wieweit eine solche Abstraktion von den eigenen Denk- und Glaubensvoraussetzungen hermeneutisch möglich ist, scheint mir allerdings fraglich.

Auf dem Weg durch die Forschungsgeschichte ist G. von Rad für den Vf. ein Markstein: «Nous considérons la théologie de von Rad comme le modèle de toute théologie biblique et nous prétendons suivre le même chemin» (51). Freilich mache der Fortgang der exegetischen Diskussion seit von Rad eine Neufassung seines Ansatzes nötig. Aber die Methode sei maßgeblich geblieben. Auch die Diskussion zwischen M. Noth und seinen Kritikern zeige die Berechtigung des traditionsgeschichtlichen Weges, und damit einer narrativen Theologie. Gegen Rendtorff (und Blum) gelte, daß ein Teil nicht von den ältesten, sondern von den jüngsten Schichten her erforscht werden müsse. Aus dem gegenwärtigen «impasse» der biblischen Theologie könne nur ein neuer Ansatz herausführen (93).

Für seinen eigenen Weg verweist der Vf. auf Erkenntnis und Schicksal Galileis, damit auf den Gegensatz zwischen "bruta facta"/historischer Kritik und Glaubensaussagen über die Geschichte. Auch die Urteile über die Geschichte der Gegenwart können als Parallele zur biblischen Geschichtsauffassung dienen. Ausgangspunkt einer biblischen Theologie müsse das Exil sein, in der zum erstenmal eine Geschichtsschau entwickelt wurde. Von daher ist auch der Rückblick in die vorexilische Geschichte denkbar. Für den Vf. «toute théologie de la Bible, tant du Nouveau que de l’Ancien Testament, n’est possible que si on prend son point de départ dans l’exil: c’est le creuset de la théologie biblique.» (109). Die alten Überlieferungen von Exodus und Landnahme könne man durchaus ohne Zuhilfenahme des Wunderhaften interpretieren; sie sind das Ergebnis ausgestaltender Traditionsbildung aus historisch minimalem Kern.

Ein weiterer Grundsatz ist, daß biblische Theologie sich mit der in der Bibel enthaltenen Theologie befasse (sie ist also eine historische Aufgabe). Sie sei aber keine eigentliche Theologie (im Sinne einer systematischen Reflexion über Gott), sondern Anthropologie. «La Bible entiére est une anthropologie et non une théologie» (121, im Original fett). Man könne auch von einer großen Soteriologie sprechen, denn das sei die eigentliche Mitte der Bibel. Es handele sich um eine «anthropologie théologale, c’est-á dire Evangile» (123). Es sei eine narrative Anthropologie, die zugleich kerygmatisch sei. Sie gelte es überlieferungsgeschichtlich zu erarbeiten. Diese Theologie ist aber nicht monolithisch, sondern umfaßt diverse Theologien, denn Offenbarung (Gottes, durch die Geschichte hindurch) und Inspiration (Zeugnis der Menschen) sind nicht identisch .

Daraus ergibt sich das Ziel einer dreiteiligen, dialektisch aufgebauten biblischen Theologie (137 ff.). Denn: «la continuité du salut n’est pas lineaire, mais dialectique» (137). Eine zweiteilige biblische Theologie sei nicht möglich, da zwischen beiden Testamenten ein Bruch bestehe. So seien nur christliche Theologien der Bibel erschienen, die aber der Theologie des Alten Testaments nicht gerecht werden könnten. Das vom Vf. vorgeschlagene Modell (143 ff.) macht statt dessen innerhalb des Alten Testaments mit dem Exil (ca. 600 v. Chr.) einen Schnitt. Die exilisch-nachexilische Periode ist die Zeit der Negation aller bisher geltenden Ordnungen und Verheißungen, sie ist "Anti-Modell", "Negation des Modells" (144), "negative Theologie" (145), die in dialektischer Beziehung zu allem Vorhergegangenen steht. Der Verlust von Land, Staat, Tempel usw. führt zu einer tiefen, aber theologisch fruchtbaren Krise. Die Synthese ist dann der "neue Bund" (die Bezeichnung soll unbedingt beibehalten werden, gegen Kutsch, 149, Anm. 221). Jesus nimmt seinen Ausgangspunkt von dieser negativen Theologie des Exils. Am Tod Jesu sind nicht die Juden schuld: Auch an anderem Ort wäre er zu Tode gekommen, weil seine Theologie unerträglich war. Denn die Anwesenheit Gottes unter den Menschen bedeutete deren Tod, sie ist nicht zu ertragen. Wir alle sind schuldig! Andere Stichworte für die drei Teile dieser biblischen Theologie: "Aneignung", "Entfremdung", "Fülle" (154).

Von diesen Grundsätzen her bestimmt sich auch der Aufbau der Darstellung: 1. Eingesetzt wird nicht mit den Anfängen, sondern den großen nachexilischen Synthesen (Deuteronomist, Priesterschrift usw.). 2. Von dort wird zu den älteren (lokalen) Überlieferungen und Spuren vorexilischer Religiosität zurückgefragt. 3. Zuletzt folgt die endgültige Interpretation des Neuen Testaments (159).

Von diesen drei Teilen legt der Vf. in dem anschließenden 2. Band nur den ersten vor (161-491; zwischen den tatsächlichen Seitenzahlen und den Angaben im Inhaltsverzeichnis [519-522] besteht leider eine Differenz). Er nennt diesen Teil (auf einem barocken Titelblatt) entsprechend seinen Vorüberlegungen "Antithese", "’Nein’ Gottes", "Negative Theologie", "Fluch", "Diaspora", "Auschwitz", zitiert Jes 45, 15 als Motto ("der verborgene Gott"). Außerdem werden Ex 2,24; 3,7 (?), Gen 28, 16 erwähnt. Nach nochmals einer ausführlichen allgemeinen Bibliographie folgt die Behandlung 1. des Deuteronomisten und seiner Zusätze (201-328) ­ erneut mit reicher Bibliographie, 2. des Garizim-Pentateuchs (351-396) (damit meint der Vf. die Stoffe, die sonst dem "Jahwisten" zugeschrieben werden ­ er teilt dessen Spätdatierung), 3. des (Ur-)Deuteronomiums (397-430) und 4. des "Restes": Dieser umfaßt die Teile, die nach Ansicht des Vf.s in den bisher behandelten Pentateuchteilen noch nicht enthalten waren: Urgeschichte (Gen 1-11), Josephsgeschichte (Gen 37-50), Sinaitradition. Dabei geht der Vf. bewußt von den Ansetzungen G. von Rads aus.

Da ließe sich nun allerdings vieles einwenden oder zumindest diskutieren. Zu von Rads Thesen ist ja auch schon genügend Kritisches geäußert worden, etwa zur Bedeutung und dem traditionsgeschichtlichen Alter der biblischen Urgeschichte (beides hat von Rad offenbar unterschätzt).

Diese Einwände haben auch grundsätzliches Gewicht, es geht nicht nur um exegetische Details.

Hier in Einzelheiten einzusteigen, würde aber den Rahmen einer Rezension sprengen.

Trotz allem: Es handelt sich um ein beachtliches Modell. Davon sollten auch einige von der üblichen wissenschaftlichen Nüchternheit abweichende Züge nicht abschrecken. Besonders der Vorschlag, bei den großen exilisch-nachexilischen Entwürfen in die biblische Theologie einzusteigen, sollte ernsthaft diskutiert werden.

In der vorliegenden Form ist der Doppelband trotz seines Umfanges ein Torso. Der Vf. beabsichtigt die noch fehlenden beiden Teile seiner dreiteiligen Dialektik in absehbarer Zeit folgen zu lassen. Dazu möchte man ihm Kraft wünschen. Denn die Diskussion kann erst dann wirklich beginnen