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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

225–229

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Beyerlin, Walter:]

Titel/Untertitel:

Neue Wege der Psalmenforschung. Für Walter Beyerlin. Hrsg. von Seybold, K., u. E. Zenger. 2. Aufl.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1995. X, 392 S. gr.8° = Herders biblische Studien, 1. Pp. DM 88,-. ISBN 3-451-23151-4.

Rezensent:

Siegfried Kreuzer

Die Tatsache, daß der vorzustellende Band in kürzester Zeit in 2. Aufl. erschien, signalisiert den guten Start der neuen Reihe "Herders Biblische Studien" und besonders das große Interesse für "Neue Wege in der Psalmenforschung". Der Band hat einen zweifachen Hintergrund: Im ersten Teil sind die "Vorträge beim internationalen Kongreß der Society of Biblical Literature in Münster 1993", d. h. natürlich nur jene zu den Psalmen, zusammengefaßt (3-198). Diesem Grundstock wurden im zweiten Teil zehn "Weitere Beiträge zur Psalmenforschung" hinzugefügt (201-388) und zusammen mit einer Auswahlbibliographie "Beiträge zur Psalmenforschung von Walter Beyerlin" (391 f.) diesem als Festschrift gewidmet.

Es handelt sich um folgende Beiträge: Erhard S.Gerstenberger,Der Psalter als Buch und als Sammlung (3-13); Moshe Greenberg, Hittite Royal Prayers and Biblical Petitionary Psalms (15-27); Frank-Lothar Hossfeld, Psalm 95. Gattungsgeschichtliche, kompositionskritische und bibeltheologische Anfragen (29-44); Jannie H. Hunter, Interpretationstheorie in der postmodernen Zeit. Suche nach Interpretationsmöglichkeiten anhand von Psalm 144, 45-62; Hubert Irsigler, Psalm-Rede als Handlungs-, Wirk- und Aussageprozeß. Sprechaktanalyse und Psalmeninterpretation am Beispiel von Psalm 13 (63-104); Norbert Lohfink, Psalmen im Neuen Testament. Die Lieder in der Kindheitsgeschichte bei Lukas (105-125); Patrick D. Miller, Kingship, Torah Obedience, and Prayer. The Theology of Psalms 15-24 (127-142); Klaus Seybold, Das "Wir" in den Asaph-Psalmen. Spezifische Probleme einer Psalmgruppe (143-155); Hermann Spieckermann, Rede Gottes und Wort Gottes in den Psalmen (157-173); Ernst Jenni, Pleonastische Ausdrücke für Vergleichbarkeit (Ps 55,14; 58,5) (201-206); Otto Kaiser, Erwägungen zu Psalm 8 (207-221); Dietrich-Alex Koch, Auslegung von Psalm 1 bei Justin und im Barnabasbrief (223-242); Klaus Koch, Der Psalter und seine Redaktionsgeschichte (243-277); Hans-Peter Müller, Gottesfrage und Psalmenexegese. Zur Hermeneutik der Klagepsalmen des einzelnen (279-299); Karl-Friedrich Pohlmann, Das Ende des Gottlosen. Jer 20,14-18: Ein Antipsalm (301-316); Jörg Viktor Sandberger, Hermeneutische Aspekte der Psalmeninterpretation, dargestellt an Psalm 23 (317-344); Werner H. Schmidt, Individuelle Eschatologie im Gebet. Psalm 51 (345-360); Odil Hannes Steck, Zur Rezeption des Psalters im apokryphen Baruchbuch (361-380); Ernst Würthwein, Bemerkungen zu Psalm 51 (381-388).

Deutlich ist eine Hinwendung zur Redaktions- und Kompositionskritik zu erkennen ­ und zwar nicht nur einzelner Psalmen (Hossfeld zu Psalm 95; Irsigler zu Psalm 13), sondern besonders auch ganzer Psalmengruppen (Miller: Psalm 15-24; Seybold: Asaph-Psalmen, Zenger: Korachpsalmen, K. Koch: Psalter). Auffallend ist auch die Beschäftigung mit der Nachgeschichte (Lohfink: Neues Testament; Steck: Baruchbuch; D. A. Koch: Justin und Barnabasbrief). Nicht nur die Nachgeschichte, auch die Vorgeschichte wird thematisiert, einerseits im religionsgeschichtlichen Sinn (Greenberg zu den hethitischen königlichen Gebeten), andererseits unter der noch wenig beachteten inner-alttestamentlichen Wirkungsgeschichte (W. H. Schmidt: Aufnahme prophetischer Gedanken in Psalm 51).

Ohne durch die folgende Auswahl irgendwie zu werten zu wollen, seien einige markante Beiträge näher vorgestellt:

Unter den von Greenberg dargestellten Analogien und Kontrasten zu hethitischen Gebeten ist der hohe Anteil von Gebeten des Königs bzw. solchen, die für den König verfaßt oder gesprochen wurden, interessant, auch wenn man, anders als Greenberg, weniger an den geschichtlichen David, sondern an die redaktionellen Tendenzen denkt.

Hossfeld steuert nach umfangreichen einzelexegetischen Beobachtungen auf eine "kompositionskritische Analyse von Psalm 95 im Kontext seiner Nachbarpsalmen" zu. Zwischen Ps 94 und 95 bestehen eine Stichwortverkettung, eine Gemeinsamkeit im Gebrauch der Gottesbezeichnung El und ein gemeinsamer Bezug zu Israel. Etwas schwieriger nachzuvollziehen ist die Verbindung durch gegensätzliche Aussagen, z. B. daß die Gegenspieler des Beters in Ps 94,4.16 als Übeltäter bezeichnet werden, während Ps 95,10 von den Taten Jahwes spricht. (Sind das nicht allzu häufige Themen im Psalter?) Mit seiner Stellung innerhalb der Jahwe-König-Psalmen erweist sich Psalm 95 als Übergangspsalm: Nach der Themaangabe von Psalm 93 zeigt Psalm 94, daß die Königsherrschaft JHWHs noch nicht verwirklicht ist. Mit der Spannung zwischen Gefährdung der Königsherrschaft Jahwes durch Israel selbst und der Aufforderung zum Gotteslob leitet Ps 95 zu den Hymnen Ps 96­99 über. Damit wird die Gruppenbindung an die Festpsalmen der Asaphiten aufgegeben und erhält der Psalm eine neue Funktion in den Jahwe-König-Psalmen (41 f.).

Die damit angesprochenen Asaph-Psalmen behandelt Seybold ausführlicher, wobei er die gemeinsame, aber nie allein und nie in Spitzenstellung stehende Überschrift zunächst "als möglicherweise sekundäres Gruppenmerkmal..., das mit der Verwertung der Texte mehr als mit der Entstehung zu tun hat (1Chr 16)", zurückstellt (144). Eine Besonderheit ist die Dichte der "Wir"-Aussagen, so daß sich die Frage ergibt, wer hinter diesem "Wir" steht. Unter Abgrenzung der Vorgeschichte, d. h. der aufgenommenen Überlieferung, und andererseits der Nachgeschichte mehren sich "die Anzeichen..., daß wir mit der Datierung der Haupttexte... in die exilische Zeit kommen" (145). Dabei zeigt sich eine gewisse Distanz zu Juda und Jerusalem (Ps 76,2 f.), die "als die zweite Wahl nach dem aufgegebenen Ephraim und Silo erscheinen (Ps 78,52 ff.60; 65-72)". (146) So handelt es sich wohl um eine vorexilische Gemeinde im Gebiet "vielleicht um Silo, eher noch Bethel", wozu auch die Selbstbezeichnungen "Israel", "Jakob" und vor allem "Joseph" passen. Ein weiteres Merkmal ist "die Traditionsbezogenheit der Texte, die auf eine vergangenheitsbezogene Haltung schließen läßt". Von diesem Gruppenkontext her versucht Seybold schließlich Einzelfragen zu Ps 76 zu klären. ­ Auch wenn hier eher traditionelle Fragestellungen verfolgt werden, so paßt doch der Weg über die Psalmengruppe durchaus zu den "neuen Wegen".

In anderer Weise fragt Zenger nach dem durch die Komposition eröffneten "Sinnraum" (der Begriff wurde in diesem Zusammenhang erstmals von Norbert Lohfink 1992 gebraucht) bezüglich der Korachpsalmen, nämlich ausgehend von den Überschriften: "mizmor steht siebenmal, sir fünfmal, mas´kil dreimal", mit der Unterscheidung von "Psalm 42 und 43 ergibt sich eine Gesamtzahl von 12 Korachpsalmen ­ entsprechend den 12 Asaphpsalmen" (176). Verschiedene formale und terminologische Ähnlichkeiten erweisen die Zusammengehörigkeit von Ps 42­49, andererseits besteht eine Analogie bei den Ps 84-85.87-88, so daß die zweite eine Nachahmung der ersten Korachpsalmensammlung ist. Schließlich wird auch die Einfügung von Ps 86, einem von der sog. Armenfrömmigkeit bestimmten Davidpsalm, erklärt, nämlich als Korrektur der "negativen Theologie" des 88. Psalms (189).

Viele der vorgetragenen Beobachtungen sind tatsächlich vor allem in ihrer Summe beeindruckend. Manches könnte aber durchaus auch anders systematisiert oder gedeutet werden: Müßte man nicht gerade angesichts der Bedeutung der Überschriften Ps 86 noch unter anderer Perspektive sehen, zumal er durchaus auf seine Nachbarpsalmen 85 und 87 hin komponiert ist (190 A. 42): Warum sollte nicht (anstelle der Aufteilung von Ps 42 f.) Ps 86 der Vervollständigung der Zwölfzahl der Korachsammlung dienen und als Davidpsalm die Davidität der Korachiten unterstreichen und darum im Zentrum der zweiten Sammlung und an markanter 10. Stelle der Gesamtsammlung eingefügt sein?

Miller untersucht die durch Ps 15 und 24 als "envelope or inclusio structure" (127) zusammengehaltenen Psalmen 15 bis 24, bei denen mit Ps 19 die Freude an der Thora ins Zentrum gestellt ist. Dieser Ps 19 spiegelt die auch in Ps 1 ausgedrückte Thora-Frömmigkeit, und analog zu dem Ps 1 benachbarten Königspsalm, Ps 2, ist auch Ps 19 von Königspsalmen umgeben: Ps 18.20.21. "God’s word in the torah and God’s rule through the king are bound together" (128). Damit sind wir natürlich in der Nähe des deuteronomischen Königsbildes. Es geht aber Miller nicht um die Frage nach einer deuteronomistischen Redaktion von Ps 18 oder seiner theologischen Quellen; wichtiger ist "the way in which these pieces begin to form a whole"(130).

Hier stellt sich dem Leser die Frage, wie denn das zum nachexilischen Fehlen eines Königs paßt. Miller nimmt das Problem durch Gleichsetzung von König und gewöhnlichen Israeliten vorweg: "... the equality of the king with other Israelites, the democratizing of kingship and the royalizing of the people" (130). Der zweite Gedanke kann mit dem Hinweis auf die königliche Stellung des Menschen (aber nicht nur der Israeliten!) in Ps 8 begründet werden (131), der erste aber kaum mit dem deuteronomischen Ämtergesetz (130). Mit Ps 20 und 21 wird schließlich der dritte Aspekt des Themas benannt: Prayer. Der König vertraut auf Jahwe (Ps 21,7) und das ist "important, for it signals a fundamental theme of this collection" (133). Diese drei Grundthemen: Gerechtigkeit durch Torah-Obedience, Gebet und Vertrauen auf Jahwes Hilfe werden schließlich durch die weiteren Psalmen der Gruppe Ps 15 bis 24 hindurch verfolgt ­ und natürlich gefunden.

Kann man mit dieser Art von Lektüre nicht letztlich alles überall finden? Werden hier nicht die "erlesenen, heilsamen und nahrhaften Früchte" der Psalmen zu einem Einheitsbrei oder einem Früchtemus gemacht? ­ So jedenfalls der massive Vorwurf von Gerstenberger. Gerstenberger lehnt den Blick auf die Endgestalt nicht prinzipiell ab, aber doch dann, wenn über der kanonischen Endgestalt "die geschichtliche Genese unserer Glaubensüberlieferung" (3) und die Lebenswelt der Sprecher und Adressaten der Texte, auch der kanonischen Endgestalt, aus dem Blick gerät. "Die kanonische Endgestalt der hebräischen Schriften ist ganz und gar mit den besonderen geschichtlich einmaligen Leiden, Freuden und Vorstellungen der nachexilischen jüdischen Gemeinden in Palästina und in der Diaspora verbunden... Einen einheitlichen Plan, eine uniforme theologische Ausrichtung, eine autoritative Auswahl der Texte hat es zu keiner Zeit gegeben" (4).

Gerstenberger sieht durchaus die große Produktivität, den "kreative(n) Prozeß der Psalmendichtung und -umdeutung bis in die Spätphase des AT... Die reflektierenden, weisheitlichen, tora-nahen und armenfreundlichen Psalmen... sind Neubildungen. Aber sie dienen nicht der Herstellung eines zusammenhängenden Lesetextes, sondern sind auf neue, zeitgenössische Probleme und Erwartungen der Gemeinde abgestellt, in der sie entstanden sind. Toratreue und -freude, die Vergänglichkeit des Lebens, die Ausbeutung armer Gemeinden durch reiche Grundbesitzer (vgl. Neh 5) ­ das sind brennend aktuelle Situationen, die im Zusammenleben der Glaubenden artikuliert werden müssen" (5). Von diesem Grundanliegen der Verankerung der Texte in den realen Lebenssituationen diskutiert Gerstenberger verschiedene Aspekte und Voraussetzungen der holistischen Lektüre. Er bestreitet nicht die Verknüpfung durch Stich- und Leitworte und auch nicht die wechselseitige Interpretation von Psalmen, wie sie allein schon bei den sog. Zwillingspsalmen (105/106; 111/112) evident ist, aber doch entschieden, daß sich der Psalter oder auch nur umfangreiche Teile davon auf einen Nenner bringen lassen. "Der Psalter ist kein ’Buch’ in unserem Sinn, schon gar kein theologisches Lehrbuch mit fortschreitend entfaltenden Gottesaussagen; er kann es seinem Wesen nach nicht sein..." (9). "Jede Einheit wird als in sich gerundet verstanden, nicht als Teil eines Buches..." (10), etwas bildhafter ausgedrückt: "Der Psalter ist ein wunderbarer Korb von den erlesensten, heilsamen und nahrhaften Früchten, die man einzeln genießen muß..." (12).

So berechtigt Gerstenberbergers Mahnungen sind, nicht die geschichtlichen und sozialen Dimensionen zu vergessen, besteht hier nicht doch die Gefahr, auch sachgemäße Beobachtungen zu übersehen? Ist die Alternative zu den nahrhaften Früchten nur das Früchtemus, oder haben nicht doch ­ um im Bild zu bleiben ­ auch das Arrangement und die Speisenfolge ihre Bedeutung beim Essen?

Die neuen Wege der Psalmenforschung sind offensichtlich vielfältig und kontrovers. Eine einheitliche Betrachtungsweise (wie sie in der Formgeschichte für einige Jahrzehnte dominierte) dürfte sich nicht so bald ergeben. Vielleicht ist das auch gut so. Denn auch die Psalmen sind vielfältig, je für sich und auch in ihren Sammlungen und Verknüpfungen.

Es ist zu hoffen, daß die verschiedenen Ansätze nicht zu Selbstläufern mit zunehmender Hypothetik werden (wie es die form- und kultgeschichtlichen Theorien teilweise waren). Insofern sind die 20 Beiträge dieses Bandes nicht nur informativ, sondern in ihrem Mit- und Gegeneinander auch wichtig für die weitere Entwicklung der Psalmenforschung.