Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

496 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kuhlmann, Helga

Titel/Untertitel:

Die Theologische Ethik Albrecht Ritschls.

Verlag:

München: Kaiser 1992. 295 S. gr.8° = Beiträge zur evangelischen Theologie, 112. ISBN 3-459-01935-2.

Rezensent:

Mark D. Chapman

Diese Studie über den Göttinger Systematiker Albrecht Ritschl (1822-1889) versteht sich als Beitrag zur historischen Theologie im Zusammenhang mit der Kirchen- und Zeitgeschichte des frühen Kaiserreichs. Die Autorin versucht besonders im letzten Kapitel in Auseinandersetzung mit einigen der Hauptrichtungen heutiger Ethik (u. a. Feminismus und Befreiungstheologie), die Ethik Ritschls als Antwort auf die Herausforderungen der Moderne darzustellen. Da Ritschl keine besondere theologische Ethik geschrieben hat, mußte Kuhlmann zuerst eine systematische Rekonstruktion seines moralischen Denkens schaffen. Als wichstigste Quellen benutzt sie eine im Sommersemester 1882 gehaltene Vorlesung über "Theologische Moral", die Ritschls Sohn Otto stenographisch festgehalten hat, zusammen mit dem dreibändigen Hauptwerk Ritschls "Rechtfertigung und Versöhnung", das in drei veränderten Auflagen von 1870 bis zum Jahre des Todes Ritschls 1889 veröffentlicht wurde.

Vor eine kurze Auseinandersetzung mit der modernen deutschsprachigen Ritschl-Literatur stellt die Autorin eine historische Darstellung der Lutherischen Landeskirche von Hannover. Als Repräsentant der preußischen Union stand Ritschl oft im konfessionellen Widerspruch zu dieser Kirche, und als Repräsentant einer liberalen Theologie des Kompromisses lag er oft im Streit mit seinen konservativen und auch liberalen Fachkollegen wie Frank und Lipsius. In der systematischen Darstellung der Ritschlschen Theologie und Ethik, die in den nächsten sechs Kapiteln zusammengefaßt ist, wird aber diese 70seitige geschichtliche Einführung fast nicht benutzt.

Die Grenzen zwischen historischer Theologie und Kirchengeschichte werden von der Autorin nicht überschritten: Die Ethik Ritschls scheint deshalb fast unabhängig von ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu sein. Trotzdem wird das ethische System Ritschls scharf und sorgfältig gezeichnet: Eine elliptische Theologie mit den dogmatischen und ethischen Kernpunkten sei das eigentliche Merkmal des Ritschlschen Systems. Die theologischen Begriffe seien deshalb übersetzbar in die Sprachen der Dogmatik und Ethik, die aber nicht getrennt gedacht werden könnten (Kap. II). Es sei die Gemeinde, wo man Versöhnung erfahre, aber auch wo man das Reich Gottes als ethische Gemeinde bilde (Kap. III), wo das Ineinandergreifen von Dogmatik und Ethik am schärfsten gefühlt werde.

Im vierten Kapitel wird die Sünde charakterisiert: Ritschl sei nicht so optimistisch wie viele seiner Anhänger. Obwohl Erziehung einen wichtigen Platz im Ritschlschen System habe, könne man nicht durch Erziehung von der Sünde befreit werden. Die Sünde sei doch eine Art Hemmung von der Natur, die überwunden werden müsse. Hier ist Ritschl besonders kritisierbar: So streng ist der Dualismus zwischen Natur und Geist, daß man in der Körperlichkeit fast keine Versöhnung erfahren kann.

Trotz dieses Dualismus sei das Ziel der theologischen Ethik Ritschls eine Einheit der individuellen Persönlichkeit mit der Ganzheit der Gemeinde (Kap.VI). Deshalb habe die Theologie ganz andere Möglichkeiten als die anderen Einzelwissenschaften: "Allein die Theologie stellt seiner [Ritschls] Auffassung nach eine Konzeption bereit, die Einheit und Ganzheit, damit auch ein oberstes Gesetz und einen Zusammenhang der kontingenten Einzelerscheinungen begründet" (268).

Nach K. bietet dieser Versuch Ritschls eine Aktualität in einer Welt ohne jegliche Integrationsethik: Hier bietet die Wiederentdeckung der Tugendlehre in der heutigen nordamerikanischen theologischen Ethik eine wichtige Parallele mit der Ritschlschen Gemeindeethik. Nach K. leben auch viele seiner Gedanken vorwiegend anonym in den Theologien, die seit den zwanziger Jahren entstanden sind. Obwohl die Autorin die Theologie Ritschls nicht in ihrem geschichtlichen Zusammenhang adäquat entwickelt, steht dieses klare, umfassende Buch als Zeuge, daß das System des Vaters des Kulturprotestantismus noch Bestand hat. Eine die Dogmatik von der Ethik absondernde Theologie steht dagegen in der Gefahr von Weltflucht und so von Unerheblichkeit.