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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

326 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Chomsky, Noam

Titel/Untertitel:

Probleme sprachlichen Wissens. Übers. von M. Schiffmann.

Verlag:

Weinheim: Beltz Athenäum 1996. 208 S. 8°. Geb. DM 68,­. ISBN 3-89547-098-8.

Rezensent:

Wolfgang Schenk

Dank seinem Engagement gegen den Vietnamkrieg konnte Chomsky (*1928) vom ’Massachusetts Institute of Technology’ die ’Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik’ der ’Akademie der Wissenschaften’ in der DDR besuchen und Ewald Lang dort auch dessen Standardtheorie der ’Generativen Grammatik’, ’Aspekte der Syntax-Theorie’, übersetzen, die (mit den üblichen Druckverzögerungen) 1970 erschien (= Frankfurt 1969). Undank seinem Engagement gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag war dann Schluß mit diesen Kontakten, ja die Akademie-Arbeitsstelle ’Strukturelle Grammatik’ wurde durch die DDR-Behörden faktisch paralysiert. Dagegen konnte John Lyons schon 1970 (London, 3. Auflage) ’Chomsky’ in der Reihe ’Modern Masters’ nach den Bänden über Camus und Lévi-Strauss vorstellen (vgl. zu den Anwendungen der ’Generativen Grammatik’ auf das hellenistische ’Bibelgriechisch’ durch D. D. Schmidt und M. W. Palmer meine Rezensionen ThLZ 110, 1985, 39 f. und 118, 1993, 926 f.).

Das Doppelengagement Chomskys ist geblieben; vor allem für uns ’gelernte DDR-Bürger’ ist der vorliegende Band eine besondere Freude der Wiederanknüpfung. Er geht auf eine Vorlesungsreihe zurück, die Chomsky 1986 an der Zentralamerikanischen Universität in Managua zu der Frage der Sprache und des Wissens vor einem breitgefächerten Auditorium gehalten hat. Parallel dazu lief seine zweite Vorlesungsreihe zum Thema ’Macht und Ideologie’ (dt.: Die fünfte Freiheit, Hamburg 1988) zum aktuellen Problem der US-Politik, die sandinistische Regierung in Nicaragua zu stürzen. Auch diesen beiden Vorlesungsreihen lag das gemeinsame Anliegen der Kompetenzstärkung zugrunde, "daß sowohl Macht und Ideologie als auch die Kernfragen von Philosophie und Wissenschaft Gegenstand der Diskussion einer breiten demokratischen Öffentlichkeit sein sollten. Entscheidungen in diesen Bereichen haben oft weittragende Konsequenzen, und daher sollte jeder freien Zugang zu Kenntnissen erlangen können, die ihm die Ausübung seines Mitspracherechts ermöglichen" (VII).

Der guten Übersetzung Michael Schiffmanns verdankt der Leser nun auch die deutsche Version von ’Language and Problems of Knowledge’ (M. I. T. 1988) und auch das hilfreiche Glossar (189-199 ­ noch hilfreicher wäre die Beigabe der englischen Äquivalentausdrücke gewesen), was insbesondere für die syntaktisch-semantischen Probleme der spanisch-englischen Beispielsätze zur Ausschaltung von Scheinfragen wesentlich ist. Ebenso hilft der Abdruck der Diskussion (166-188 ­ sofern er nicht schon in den Text der fünf Vorlesungen einbezogen wurde) durch seine exemplarischen Konkretionen dem Verständnis.

Die erste Vorlesung (1-33.166-170) steckt den Rahmen mit den klassischen Grundfragen ab (3.131): "1. Was ist dieses Wissenssystem? Was befindet sich im Geist/Gehirn des Sprechers des Englischen, Spanischen oder Japanischen?" (Untersuchungsgegenstand der philosophischen Grammatiken des 17. und 18. Jh.s.). "2. Wie entsteht dieses Wissen im Gehirn?" (Fragestellung Platos und B. Russells: genetische Determination). "3. Wie wird dieses Wissen beim Sprechen (oder in sekundären Systemen wie dem Schreiben) verwendet?" (das Descartes-Problem: Wahrnehmungsproblem und Produktionsproblem). "4. Was sind die psychischen Mechanismen, die als materiale Basis für dieses Wissenssystem und für den Gebrauch dieses Wissens dienen?" (6: "Solange es keine Antworten auf die Fragen" 1-3 "gibt, wissen die Neurowissenschaftler nicht, wonach sie suchen; ihre Forschung ist dann in dieser Hinsicht blind"). Auf der Basis des vom Irrtum der Präexistenz gereinigten Mentalismus (Sprache als eines der kognitiven Systeme jeder Person) eines invarianten konzeptuellen Systems des universalen Sprachvermögens (>faculté de langage< als Bedingungen der einzelnen ’Sprachsysteme’) wird dann in der zweiten Vorlesung "Das Forschungsprogramm der modernen Linguistik" (34-64) im engeren, individualpsychologischen Sinne (von Sprache als eine im Geist/Gehirn eines Individuums repräsentierten Wissenssystems) entfaltet: Daten ­ Sprachvermögen (invariante Prinzipien der Universalgrammatik) ­ Einzelsprache (deren generative Grammatik) ­ strukturierte Ausdrücke (34. 58 f).

Die dritte Vorlesung "Prinzipien der Sprachstruktur I" (65-89) entfaltet einige Prinzipien der Universalgrammatik: Die vier Strukturen "lexikalischer Einheiten" (Verb, Nomen, Adjektiv, Apposition) in ihren Phrasenstrukturen (VP, NP, AP, PP) bilden das "Phrasenstrukturprinzip" (XP = X-YP) der Satzbildung, wobei nach dem "Projektionsprinzip" "die lexikalischen Eigenschaften jedes lexikalischen Elements auf jeder Repräsentationsebene erhalten bleiben müssen" (72).

Über die Bindungstheorie (mit quantifizierenden, fragenden, relativierenden Variablen, den "Operatoren": 86 f.) hinaus geht die vierte Vorlesung, "Prinzipien der Sprachstruktur II" (90-130.170-176), zu anderen, komplexeren Teilsystemen der Universalgrammatik ("Kasustheorie" finiter und infiniter Sätze mit den vier "leeren Kategorien": Operatorspur, NK-Spur, lautlich realisiertes oder nicht realisiertes pronominales Nullsubjekt).

Nachdem der Leser so in das von Chomsky seit Ende der siebziger Jahre entwickelte, über seine frühe ’Generative Grammatik’ weit hinausgehende "P & P-Modell" ("Prinzipien" als Axiome der Universalgrammatik des Spracherwerbs und "Parameter" als Variationsmöglichkeiten der Realisierung jener Prinzipien) eingeführt ist, wendet sich die letzte Vorlesung als "Ausblick" der "Zukunft der Erforschung des Geistes" zu (131-165. 179-188):

"Ein mit dem Sprachvermögen ausgestattetes Kind wird mit bestimmten Daten konfrontiert und konstruiert eine Sprache, wobei es die Daten benutzt, um die Parameter des Sprachvermögens festzulegen" (152). Gesamtziel bleibt dabei, "echte erklärende Theorien zu entdecken und diese Entdeckungen dazu zu benutzen, die Erforschung physikalischer Mechanismen mit den in diesen Theorien beschriebenen Eigenschaften zu erleichtern" (142).

Um die Grundlagen für die abstrakten Theorien komplexer Systeme (wie etwa des menschlichen Geistes) zu liefern, ist "dieses Studium in den Hauptstrom der Naturwissenschaft zu integrieren, ebenso wie das Studium der Gene oder der Valenz und der Eigenschaften der chemischen Elemente in die elementaren Wissenschaften integriert wurde" (ebd.). Das Interesse einer enzyklopädischen Einheitswissenschaft bleibt eng mit der Erforschung des Sprachvermögens verbunden: "Kann die Erforschung der Sprache... ein nützliches Modell für andere Aspekte des Studiums der menschlichen Kognition liefern? Die allgemeine Art des Herangehens sollte auf anderen Gebieten genau so angemessen sein, aber es wäre erstaunlich, wenn wir entdecken sollten, daß die das Sprachvermögen konstituierenden Elemente in bedeutsamer Weise in andere Bereiche eingehen" (154 f.).

Die Unhintergehbarkeit der Sprache und die Unmöglichkeit, aus der Welt der Zeichen auszubrechen, hat grundlegende Bedeutung nicht nur für die Anthropologie. Kein Text ist Gott ­ am allerwenigsten sind es Sprüche und Losungen. Theologen sollten mehr Rechenschaft geben, wenn sie den Ausdruck "Wort Gottes" (im Sinne eines Genitivus subjektivus) zum Axiom machen ­ auch und gerade wenn sie ’verbum’ mehr in Sinne von ’sermo’ verstehen (vgl. H. Dörrie, Der Prolog zum Evangelium nach Johannes im Verständnis der älteren Apologeten. In: A. M. Rittter [Hrsg.], Kerygma und Logos, Göttingen 1979, 136-152).