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Ausgabe:

1980

Spalte:

109-111

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

LaPotterie, Ignace de

Titel/Untertitel:

La vérité dans Saint Jean 1980

Rezensent:

Kieffer, René

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109

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 2

110

Trotz der selbstgezogenen Grenze dieser Übersetzung ist es sehr
zu begrüßen, daß die Tosephta durch einen erstklassigen Kenner
der talmudischen Literatur in einer der großen modernen Sprachen
zugänglich gemacht wird. Das ist auch für den, der keine selbständigen
Studien auf diesem Gebiet betreibt, sondern nur vorgegebene
Hinweise verifizieren möchte, eine ganz wesentliche Hilfe.

Hallo (Saale) Traugott Holtz

1 Neusner, J.: A History of the Mishnaic Law of Holy Things. Part 1: Zebahim.
Translation and Explanation (Studiesin.Judaism in Late Antiquity; Vol. XXX,
1) Leiden 1978.

Neues Testament

Potterie, [gnaoe de la, S. J.: La verite dang Saint Jean. I: Le Christ
et la verite l'Esprit et la verite. II: Le croyant et la verite.
Rome: Biblical Institute Press 1977. XXIX, VI, 1128 S. gr.8° =
Analecta Biblica lnvestigationes Seientificae in Res Biblicas,
73/74. Lire 34000.

An dieser gründlichen Darstellung der Warhrheit bei Johannes
wird die künftige neutestamentliche Forschung nicht vorübergehen
können. Die Arbeit ist das Resultat eines Studiums von mehr
als 25 Jahren. Der Vf. hat schon bei verschiedenen Gelegenheiten
Teilresultat* seiner Forschung veröffentlicht. Die vorliegenden zwei
Bände sind die Abrundung eines Lebenswerkes.

Wir können hier nur einige (irundzüge dieser äußerst klar and
spannend geschriebenen Arbeit zeichnen. In einer „Einleitung"
werden kurz die verschiedenen Theorien charakterisiert, die in der
johanneischen Forschung vorherrschen. Der Vf. teilt sie in vier
Hauptgruppen ein: Die erste Gruppe stellt sich das Problem des
Ursprunges der Wahrheit bei Johannes noch nicht ausdrücklich.
Hier werden verschiedene Kommentatoren genannt, aber auch das
Buch von F. Büchsei, Der Begriff der Wahrheit in dem Evangelium
und in den Briefen des Johannes (1911). Bis zum Jahre 1963 war
diese Arbeit die einzige, dio das johanneische Material systematisch
behandelte.

Eine zweite Gruppe, in der C. H. Dodd und besonders R. Bult-
mann hervorragen, bilden die Roligionsgeschichtler, die ausdrücklich
an die griechischeTradition oder den hellenistischen Dualismus
anknüpfen. Bei Bultmann wird die johanneische Wahrheit als „die
sieh offenbarende göttliche Wirklichkeit" bezeichnet.

Im Gegensatz zu dieser griechisch orientierten Gruppe stehen
die Forscher, die die johanneische Wahrheit vom Alten Testament
oder von der späteren jüdischen Tradition her verstehen wollen.
Der Vf. reiht sich selber in diese Gruppe ein (12), grenzt aber seine
eigene Auffassung so ab, daß mit „jüdischem Hintergrund" das
nachexilische Judentum gemeint sei, und eigentlich mehr das apokalyptische
und das weisheitliche Erbe als die rabbinische Literatur
(13f. X. 44). Die Qumrantexte selbst worden von dieser apokalyptischen
und weisheitlichen Tradition aus interpretiert.

Eine letzte Gruppe bilden die Eklektiker, die meinen, bei Johannes
eine Synthese von griechischer und jüdischer Tradition zu sehen
. Hier werden besonders zwei Doktorarbeiten erwähnt, die von
J. Lozano (1964) und die von Y. Ibuki (1972). Der Vf., der von der
These ausgeht, daß das Johannesevangelium eine durchdachte
Einheit ausmacht, wirft der eklektischen Lösung von Lozano vor,
allzu künstlich zu sein. Bei Ibuki werde überhaupt die Frage nach
dem Ursprung der christologischen Wahrheitsinterpretation nicht
gestellt.

Ich vermisse in der Beschreibung, die de la Potterie von den
Eklektikern vornimmt, eine Position, die mir, sogar nach der Loktüre
der mächtigen Beweisführung, als möglich erscheint: Der Ursprung
der johanneischen Wahrheit ist fundamental jüdisch, aber
es gibt Komponenten, die eine Berührung mit dem hellenistischen
Dualismus voraussetzen. Dieses leuchtet besonders hervor, wenn
man nicht, wie der Vf.. sich auf äXrf&tice beschränkt, sondern mit
Bultmann auch üXrftivöi und iXqfrfc einbezieht. Eine eklektische
Lösung braucht nicht unbedingt eine Synthese zu sein, wie
der Vf. sie beschreibt. Er ist dabei zu sehr von seiner Vorstellung
der Einheitlichkeit des johanneischen Donkens geleitet. Er sotzt

sich überhaupt sehr wenig mit den Forschern auseinander, die im
Johannesevangelium verschiedene Quellen voraussetzen oder wenigstens
verschiedene Traditionen und die lange Arbeit einer „johanneischen
Schule". Die stilistischen Untersuchungen von E.
Schweizer und E. Ruckstuhl, die auf S. 340 (N. 38) genannt werden
, sind keine absoluten Einwände gegen jede Quellenscheidung.
Ein Rodaktor kann manches scharf durchdacht haben, aber
das schließt nicht aus, daß noch Reste von verschiedenen Traditionen
(oder sogar Quellen) die einheitliche Komposition durchbrechen
können. Der Vf. gibt selbst zu (341), daß z. B. die fünf Para-
kletsprüche früher als der Kontext, in dem sie jetzt eingebettet
sind, vorhanden waren. Ich bin, von einem linguistischen Ausgangspunkt
mit dem Vf. einverstanden, daß es besser ist, vom
gegenwärtigen Text auszugehen, als von hypothetischen Quellen.
Das darf aber nicht dazu führen, a priori eine so starke Auffassung
von der Einheitlichkeit des Gesamtwerkes zu haben, daß man
keine Unterschiede mehr im Material beobachten kann.

Damit umreiße ich meine Hauptkritik an der Arbeit von I. de la
Potterie, die ich im übrigen, besonders in der Erörterung der Einzelheiten
, bewundere. Es werden ausführliehe Gründe gegeben, um
ein einheitliches Verständnis der johanneischen Wahrheit zu ermöglichen
. Es wird nicht nur allgemein über den Wahrheitsbegriff
geurteilt, sondern die verschiedenen johanneischen Formeln werden
sorgfältig in ihrem Kontext und mit Einbezug des Hintergrundes
untersucht. Jedesmal steht der johanneische Text im Zusammenhang
mit der jüdischen Überlieferung.

Der Vf. zeigt deutlich, daß die johanneischen Texte nie die Wahrheit
mit der göttlichen Substanz oder mit Gott gleichsetzen. Bei
Johannes handelt es sich um das Hören auf die Wahrheit, die offenbart
wird, nicht um die Suche nach Wahrheit, die man sehen will.
Charakteristisch I>i■ i Johannes isl 'las Niedersteigen der Wahrheit
und ihre Offenbarung durch das Wort, im Gegensatz zum hellenistischen
Aufsteigen zur Wahrheit. Hier nähert sieh der Vf. der Darstellung
der Agape bei Paulus, wie sie A. Nygren in seinem bekannten
Werk gab. Ich empfinde daher die Position von de la Potterie
als allzu systematisch, wenn ich ihr auch im wesentlichen zustimmenkann
. Eine Abgrenzung vom archaischen Begriff der ä-Xijfrcta
als dem „Nicht-vergessen" wäre in diesem Zusammenhang für den
Leser nützlich gewesen (cf. M. Detienne, Les Maitres de verite dans
la Grece archaique, Paris 1967 und J. Svenbro, La parole et le
marbre. Aux origines de la poetique grecque, Lund 1976, S. 54 und
145-149).

Die verschiedenen Kapitel des Buches sind, von der Bewegung
der Offenbarung aus, genetisch disponiert. Ein erster Teil behandelt
„Jesus und die Wahrheit" (l.Wort und Wahrheit; 2. Das
Zeugnis über die Wahrheit; 3. Jesus, die Wahrheit). Ein zweiter
Teil trägt den Titel „Der Geist und die Wahrheit " (1. Der Geist und
die Wahrheit im 1 .loh; 2. Der Paraklet, der Geist der Wahrheit).
Der dritte Teil (— II. Bd.) ist dem Thema „Der Glaubende und die
Wahrheit" gewidmet (1. Das Werk des Glaubens: die Wahrheit
tun; 2. Die Wahrheit kennen; 3. Von der Wahrheit sein; 4. In der
Wahrheit leben; 5. Durch die Wahrheit befreit werden; 6. Mitarbeiter
der Wahrheit werden; 7. Die Wahrheit und ihre Gegenpole
). Eine praktische Zusammenfassung der Ergebnisse, ein Ausblick
zum Problem der Wahrheit in der christlichen Auffassung;
ausführliche Stellen- und Verfasserregister runden das Werk ab,
das mit großer Sorgfalt gearbeitet ist (nur relativ wenige Druckfehler
kommen vor).

Es ist unausweichlich, daß manche Analysen durch ihre Ausführlichkeit
zu Spitzfindigkeiten führen, die den Unterschied zwischen
verschiedenen Ausdrücken überinterpretieren. Ich denke z. B. an
den Unterschied zwischen n)p aA^eiaf laitlti und rr)»- äXrf&fiav
Xiyeiv (39-64). Der Vf. sagt selbst, ein wenig zögernd (59):.,... la
distinetion maintenue un peu partout par Jean entre XuXiiv et
XfyilP . . . Serions-nous mis au rotteti Nous ne le pensons pas".
Die Formel äur]t> äfirjv Xeyo> ifxTv enthält auf jeden Fall auch das
Element der Offenbarung, das so charakteristisch für '/.a'AeTv angesehen
wird. Der Unterschied zwischen „enigme" für die Formeln
mit Xeyeiv und „revelation" für die Formeln mit XaXsfy scheint
mir allzu subtil zu sein (cf. 57f).

Solche Kritik, die man auch an manchen anderen Stellen anmelden
möchte (ich denke z. B. an das Kapitel über die Paraklet-
sprüche), kann den Wert dieser Arbeit kaum schmälern. Alles