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Ausgabe:

1959 Nr. 3

Spalte:

165-174

Autor/Hrsg.:

Schille, Gottfried

Titel/Untertitel:

Die Fragwürdigkeit eines Itinerars der Paulusreisen 1959

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 3

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Die Fragwürdigkeit eines ftinerars der Paulusreisen

Von Gottfried S c h i 11 e, Dörschnitz

I. Darstellung der Itinerar-Hypothese

Was er in einzelnen Aufsätzen zur Apostelgeschichte bereits
angedeutet hatte, rundet M. Dibelius in dem Aufsatz „Die
Apostelgeschichte im Rahmen der urchristlichen Literaturgeschichte
"1 ab: Unter den Quellen der Act erscheint ein fortlaufender
Faden über die Reisen des Apostels Paulus, das Itinerar2
. Form und Inhalt dieses Fadens arbeitet M. Dibelius in den
verschiedenen Arbeiten immer klarer heraus. Der Aufsatz „Stil-
kritisches zur Apostelgeschichte", 19233, hatte sich damit begnügt,
einige Probleme des „Stationsverzeichnisses" anzuvisieren, das
„vermutlich mit kurzen Angaben über Gemeindegründung und
Missionserfolg versehen" war. 1939 gibt M. Dibelius dann eine
genauere inhaltliche Umschreibung zur Sache': „Nachrichten über
die Reisestationen, Gastfreunde, Predigttätigkeit und Predigterfolg
, Gemeindegründung, Konflikte und freiwillige oder erzwungene
Abreise kehren — der jeweiligen Lage entsprechend —
immer wieder und dürfen daher als Bestandteile des Itinerars gelten
. Diese Nachrichten sind, mit ihrer Kürze und ihrer neutralen
Haltung, über den Verdacht erhaben, erbauliche oder unterhaltende
Dichtung zu sein5. Andererseits sind sie nicht farbig genug,
als daß sie etwa für lokale Traditionen einzelner Gemeinden angesehen
werden könnten". Aus den Erwägungen zu Act 17, 34
erhellt6, daß der Areopagit Dionysius wie Damaris von Athen
„offenbar in diesen Reisenotizen als willige Hörer aufgezeichnet
gewesen" sind. Über den Zweck des Itinerars äußert sich M. Dibelius
erst 1948 ausführlicher7. Da6 Verzeichnis der Stationen
wird mit praktischen Erwägungen der Missionare verständlich
gemacht und nicht mehr als Einzelfall gesehen: Es handelt sich
um ein Verzeichnis, „wie man es bei solchen Fahrten wohl schon
aus praktischen Gründen anlegte, um bei einer Wiederholung der
Reise die Wege und die alten Gastfreunde wieder zu finden".
Diese Deutung bietet M. Dibelius noch einmal wörtlich in seinem
Aufsatz zur urchristlichen Literaturgeschichte an9. Damit ist
die formgeschichtliche Einordnung des Itinerars vollendet. Der
Sitz im Leben ist bestimmt.

Nun weiß M. Dibelius natürlich, daß die Annahme eines
Itinerars nur eine Hypothese ist, deren Überlegenheit über ältere
Quellenhypothesen erst erwiesen werden muß. Daher bemüht er
«ich immer wieder neu, die Unterschiede des Itinerars zu der überholten
Annahme einer ,,Wir"-Quelle nachzuweisen*. Die Beweise
für die Existenz des Stationsverzeichnisses liegen im übrigen von
Anfang an fest und werden nur in den späteren Arbeiten neu
und besser exemplifiziert:

1. Da« Itinerar ist stilistisch innerhalb der lukanischen Werke
eine «elbständige Größe, die sich auf „das Mittelstück der
Acta" beschränkt. Denn ein ähnliches „Gerippe" wie innerhalb
der Darstellung paulinischer Missionsrei6en läßt 6ich weder in
Act 1—12 noch in der Erzählung über die Gefangenschaft des
Apostel« Paulus nachweisen10. Da« Itinerar liegt nur den Kapiteln
Act 13—21 zugrunde1', genauer 13,4 — 21,18, ausgenommen
15, 1-35".

2. Müßte der Verf. der Act im anderen Falle gewisse Stationen
reicher bedenken und andere auslassen, so drängt ihn dies

*) Ich verwende die sdiöne Sammlung: Aufsätze zur Apostelgeschichte
'1953, hrsg. v. H. Greeven. S. 167 ff.
') So schon 1923, vgl. Aufsätze S. 12 ff.
*) Aufsätze S. 12 f.

') Paulus auf dem Areopag, Aufsätze S. 64.

5) Vgl. Paulus in Athen, 1939, Aufsätze S. 71: Die Farblosigkeit
der Angaben verbietet die Annahme lukanischer Autorschaft.
") Aufsätze S. 68.

) Der erste dhristlidie Historiker, Aufsätze S. 110.

*) Aufsätze S. 169. Vgl. M. Dibelius - W. G. Kümmel, Paulus, 1951,
Sammlung Gösdien Bd. 1160, 12: „Zur Benutzung bei späteren Wiederholungen
der Fahrt angefertigt" von einem „Reiseteilnehmer".

') Vgl. Aufsätze S. 12, 64 f., 67,2, 71, 169 ff. u.a.; Paulus, 13.

*) Autsätze S. 12. 14 ff. 94; Paulus, 130.
) Aufsätze S 110.

") Aufsitze S. 167.

Gerippe zu einer einigermaßen gleichmäßigen Behandlung aller
Orte. Die Gleichmäßigkeit weist das Itinerar aus13.

3. Hätte Lukas „im Interesse der Erbauung oder Unterhaltung
seiner Leser" etwas erdichtet, „so würden wir die weder
fromm noch fesselnd wirkenden Nachrichten aus Derbe 14,21,
Thessalonike 17, 1 ff., Beroea 17, 10 ff. sicher nicht in seinem
Buche lesen"14. Lukas nennt auch belanglose Reisestationen, „von
denen eigentlich nichts weiter zu erzählen ist"15. Zu nennen wäre
ferner „die Erwähnung von Attalia 14, 25, wo der westliche Text
bezeichnenderweise eine Mi6sionierung ergänzt, Samothrake und
Neapolis 16,11, Amphipolis und Apollonia 17, lie, Caesarea
und — wahrscheinlich — Jerusalem 18,22"17.

4. In gewissen Fällen läßt sich zeigen, daß bei der Einfügung
einer frei umlaufenden Erzählung „ein Gegebenes, d. h. das
Itinerar, gesprengt worden ist"18. In dem Aufsatz zur Literaturgeschichte18
versucht M. Dibelius, als er alles zusammenfaßt, bei
den insgesamt vier Paulus-Reden dieses Abschnittes der Act
wenigstens dreimal Unebenheiten im Rahmenwerk aufzuzeigen20;
von den fünf selbständigen Überlieferungen sollen mindestens die
von Philippi21 und Ly6tra für Einarbeitung in ein vorgegebenes
Ganzes zeugen.

Während bei einer Quellentheorie die Lücken gern zu Beweisen
erhoben werden, schirmt M. Dibelius seine Hypothese
gegen die Beobachtung einzelner Lücken ab. Der Zusammenhang
der Reiseschilderung Act 16, 6 ff. sticht vom Stil des Itinerars so
stark ab, daß man mit der Überarbeitung durch Lukas rechnen
wird. Diese Annahme ist wegen der lukanischen Stilisierung
sämtlicher Überlieferungen möglich, 6ie wird in unserem Falle
dadurch besonders empfohlen, daß die besondere Funktion der
Reiseschilderung 16, 6 ff. im Gesamtwerk nachgewiesen werden
kann: Lukas wollte dem Leser anschaulich machen, daß der Heilige
Geist die Richtung der Reise diktiert". Bei 20, 1—3 bleiben
zwei Möglichkeiten offen. Die Stationsangaben waren hier entweder
„nicht vorhanden — «o ist vielleicht die Reise durch Griechenland
20, 1—3 überhaupt nicht aufgezeichnet gewesen — oder
Lukas hat aus Gründen der Komposition gekürzt"2*. M. Dibelius
entschließt sich 6päter" für die zweite Möglichkeit. Lukas deute
diese Reise nicht etwa deshalb nur an, weil es ihm an Nachrichten
gebrach, sondern weil er „die Schilderung der Fahrt nach Jerusalem
auf Leidensprophezeiung und Abschied von der bisherigen
Arbeit eingestellt" hat, so daß die Reise durch Griechenland
offenbar nichts zu bedeuten hatte und darum gekürzt wiedergegeben
werden konnte.

Durch die Itinerar-Hypothese wird der größere Teil der
Reiseschilderungen Act 13—21 als ein historisches Fundament bezeichnet
, mit dem der Forscher rechnen kann. Schwierigkeiten
würde dies nur dort bereiten, wo gewisse Andeutungen innerhalb
der echten Paulusbriefe über diesen Bericht hinausweisen.

") Aufsätze S. 12 f.: „Das ergibt sidi aus der Gleichmäßigkeit, mit
der die Stationen eingeführt und durdi kurze Notizen erläutert werden."
") Aufsätze S. 13.

") .„Beweisend dafür ist ein Satz wie dieser: .Wir aber gingen voraus
auf das Sdiiff und fuhren nach Assos in der Absidit, dort den Paulus
mitzunehmen. Denn «o hatte er es angeordnet, da er selbst zu Fuß
gehen wollte. Als er aber in Assos mit uns zusammentraf, nahmen wir
ihn an Bord und fuhren nadi Mitylene weiter' (Act. 20, 13. 14)": Aufsätze
S. 110, vgl. auch S. 167.

") Paulus, 12: „Trotzdem werden auch bloße Durchgangsstationen
genannt wie Amphipolis und Apollonia".

,7) Aufsätze S. 167.

1R) Aufsätze S. 13. Hier werden die Dublette 14, 6. 20 und Unebenheiten
im Rahmen der antiochenischen Act 13 und der Areopagrede genannt
.

") Aufsätze S. 167 f.

20) Zur Areopagrede vgl. noch Aufsätze S. 67—69.

n) Vgl. die Analyse Aufsätze S. 26-28.

") Aufsätze S. 12, 113 f., 128 f., 169 f., 177; Paulus, 14.

") Aufsätze S. 12 (1923).

") Aufsätze S 170, 177f. (veröffentlicht posthum 1951); Paulus, 14.