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Ausgabe:

1881 Nr. 13

Spalte:

316-317

Autor/Hrsg.:

Thilo, Chr. A.

Titel/Untertitel:

Kurze pragmatische Geschichte der Philosophie. 2., verb. u. verm. Aufl. 2. Thl. Geschichte der neueren Philosophie 1881

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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315 Theologifche Literaturzeitung. 1881. Nr. 13. 316

man natürlich auch den individuellen Gefchmack der
Basler Anftaltsgemeinde hindurch; aber nicht in dog-
matifcher Beziehung, man müfste nur hieher die Lieder
für Ifrael rechnen, worüber die Entfcheidung nicht auf
dem Felde der Hymnologie getroffen wird.

Anzuerkennen haben wir, dafs der Sammler auf dem
ganzen Gebiet der evangelifchen Kirche feine Garben
gebunden hat. Er greift mit Recht bis in die Reformationszeit
hinein, damit auch die altevangelifche Kirche
ihre Klänge in den Mifüonschor der Gegenwart mifche.
Warum aber neben dem lutherifchen Miffionslied: Es
wollt uns Gott genädig fein, oder wie es hier heifst: Es
wolle Gott uns gnädig fein — das Heldenlied Luther's
fehlt: Ein fefte Burg ift unfer Gott, das doch gewifs
unfere Miffionare taufendfältig geftärkt hat und noch
ftärken wird, diefe Frage haben wir uns doch nicht genügend
beantworten können. Wie weit den Dichtungen
des Grafen Zinzendorf Raum zu gewähren war, hängt
vom poetifchen Gefchmack des Sammlers ab; nach un-
ferem find feine Lieder oder Rhapfodien zu reichlich
vertreten. Dafs die Brüdergemeinde, welche mit die
erften Miffionslieder aus vollem Herzen gefungen hat,
Berückfichtigung finden mufste, wollen wir natürlich
nicht leugnen. Einzelne Pfalmlieder von Chriftof Blumhardt
laffen fich auch wohl hören. Doch ift feine
Maxime, fich fo wörtlich als nur möglich an das deutfche
Pfalmwort anzufchliefsen, ebenfo hymnologifch unberechtigt
als fubjectiv wohlgemeint; fie hat ihn zu reime-
rifchen Leiftungen geführt, welche in einem Liederbuch
unmöglich find. Man vergleiche z. B. im Lied 20 die
Stelle: ,Du bift Priener, auserkoren, es in Ewigkeit zu
fein, und dafs man dich nach der Weife des Melchifedek
es heifse!' Wie man ferner nach der Melodie: ,Gott ift
gegenwärtig' in dem fonft fchwungvollen Liede von
Barth 381 fingen foll: ,Und fie trinken fröhlich, deine
Nationen, die im Todesfchatten wohnen: Negerfklaven,
Fürften, Kaffern, Irokefen, Südfeewohner, Cingalefen,
Delawar', Malabar' — finken all als Brüder an dem
Heilsquell nieder!' dafür fehlt uns der Begriff. Aehn-
liches findet fich in dem Stollberg'fchen Lied 354 mit
dem äfthetifch fatalen Anfang: Noch tappen ganze Nationen
. In vielen folchen Fällen würde wohl einfach
die Frage, wenn fie geftellt worden wäre: Kann man das
fingen? die Entfcheidung gegeben haben. In Gedichten
läfst fich ja manches fagen; aber ein Liederbuch enthält
keine blofsen Gedichte.

Die Redaction ift eine im ganzen forgfältige und bei
den älteren Liedern, was wir mit Freuden anerkennen,
confervative. Inconfequenzen melden fich trotzdem an.
Da und dort ift doch ohne Noth noch geändert worden;
— ob immer mit Abficht oder im Anfchlufs an eine
Tradition, ift nicht gut auseinanderzuhalten. Um wenig-
ftens einige Fälle namhaft zu machen, nennen wir L. 26
Werde Licht, du Volk der Heiden und L. 109 Wach auf,
du Geift der erften Zeugen. Leid hat es uns gethan,
dafs das aus dem Tafingerfchen Württembergifchen Gefangbuch
herübergenommene fchöneEpiphanienlied, das
noch heute in der Gemeinde Kornthal am Miffionsfeft
gefungen wird: Auf, du fremdes Volk, heran! nur ver-
ftümmelt Aufnahme gefunden hat. Endlich haben wir
bei der forgfältigen Arbeit des Herausgebers es nur un-
gerne gefehen, dafs er dem neuen hymnologifchen Brauch
nicht gefolgt ift, unter jedem Liede zum Namen des
Verfaffers auch die Zeit der Abfaffung des Liedes zu
fetzen; und ebenfo, dafs ein Liederdichterverzeichnifs
am Schlulfe fehlt.

Wir fchliefsen diefen Bericht mit dem lebhafteften
Dank für die, wenn auch nicht ,fehllofe', fo doch jedenfalls
überaus fchöne Gabe. Wer durch die Reihen diefer
Miffionslieder fchreitet, bekommt einen tiefen Refpect
vor der poetifchen Kraft, die in diefem Buche fich regt
und auf die Rechnung unferer Miffionsgemeinde ge-
fchrieben werden darf. Was wir aber noch höher an-

fchlagen, es weht ihn ein Hauch kerngefunder Geiltes-
macht an, wie fie die heutige Miffionsarbeit durchdringt
! und ein Gefchenk ift von dem Herrn, dem König der
Kirche und dem König aller Heiden.

| Stuttgart. Richard Lauxmann.

Thilo, Ob.-Confilt.-R. Chr. A., Kurze pragmatische Geschichte
der Philosophie. 2., verb. u. verm. Aufl. 2. Thl.
Gefchichte der neueren Philofophie. Cöthen 1881,
O. Schulze. (XII, 434 S. gr. 8.) M. 7. 25.

In Folge davon, dafs der Verf. diefer urfprünglich
felbftändig erfchienenen Gefchichte der neueren Philofophie
eine Gefchichte der griechifchen Philofophie nach-
gefchickt hat, ift bei diefer 2. Aufl. beider Werke im 2.
Bande der Abrifs der alten Philofophie fortgefallen; doch
ift, um den Gebrauch diefes zweiten Theils als eigenen
Buches zu ermöglichen, ihm ein Rcfume derjenigen Lehr-
! fätze der alten Philofophie mitgegeben, welche zum Ver-
1 ftändnifs der neueren Philofophie erforderlich find. Ge-
1 gen die 1. Auflage ift die Darftellung dahin abgeändert,
dafs die erläuternden und kritifchen Bemerkungen, die
dort den Schlufs der Darftellung jedes Syftems bildeten,
hier fofort den betreffenden Stellen beigefügt find; beide
Methoden haben ihre Vortheile und Nachtheile. Aufser-
dem hat das Werk durch erweiternde Zufätze befonders
zu Des Cartes, Kant, Fichte, Hegel gewonnen; der
j Abfchnitt über Leibnitz ift um das Doppelte erweitert,
j Ref. bedauert es lebhaft, dafs nicht vielmehr Kant eine
eingehende Ueberarbeitung erfahren hat; er hat nicht
den Eindruck gewonnen, dafs der Verf. von den Arbeiten
von Cohen, Stadler, Riehl, Herrmann über Kant
| Notiz genommen hätte. Dem Verf. ift nach wie vor der
j Sinn Kant's der, dafs das mit einer eigenthümlichen pfy-
j chifchen Organifation behaftete Ich die von einer Vielheit
überfinnlicher Dinge an fich erfahrenen Einwirkungen
jenen angeborenen Denkformen gemäfs ordne, ohne da-
I mit eigentlich etwas zu erkennen. Und doch hat Kant
I in der 1. Auflage der Kritik (Vorrede) erklärt, dafs alles
I Pfychologifche in der Kritik Hypothefe fei und als folche
1 für fein eigentliches Unternehmen irrelevant. Diefe pfy-
j chologifche Mifsdeutung des Apriori ift um fo befremd-
j licher, als Verf. p. 228 zugefteht, dafs Kant die mythi-
! fche Seelen Vermögentheorie nicht habe. Kant's Grund-
j begriff, durchdieBeziehungauf welchen alles Apriori dedu-
! cirtwird, nämlich die Möglichkeit d. h. die objective Be-
I greiflichkeit der Erfahrung, wird kaum erwähnt. Mit Un-
| recht macht der Verf. Kant mehrfach den Vorwurf, dafs
[ er fich von dem alten Fehler habe verleiten laffen, der
j die logifche Ueberordnung abftracter Begriffe über con-
crete auf die Wirklichkeit überträgt. So bezüglich der
Deduction des Apriori der Raumanfchauung. Gerade
da widerlegt ja Kant durch die metaphyfifche Erörter-
! ung des Raumes die Meinung von Leibnitz, dafs er ein
durch Abftraction von den Einzelräumen gewonnener
j Allgemeinbegriff fei. So kurz Kant's Argumentation hier
ift, und fo oft man fie deshalb für unvollftändig erklärt
hat, zumal weil man fich meift nur an die metaphyfifche
Erörterung hält, ftatt an die transfcendentalc
und die Schlüffe daraus, fo klar und erfchöpfend ift fie
I doch. Die metaph. FL ergiebt, dafs der Raum der Ma-
j thematiker von aller räumlichen Erfahrung vorausge-
I fetzt wird, nicht pfychologifch, fondern um eine Raiim-
1 gröfse zu beftimmen. Was ift nun der Geltungswerth
| des fo befchaffenen Raumes ? Trilemma: er ift entweder
i Subflanz — dann wäre er ein .Unding', oder nach Leib-
[ nitz Allgemeinbegrirf, das widerftreitet feiner Befchaffen-
heit, bleibt übrig: fubjective Anfchauungsform. Unbe-
j greiflich ift, dafs die Lehre vom Schematismus .wegen
der geringen Wichtigkeit und der von Kant felbft ein-
geftandenen Dunkelheit kann übergangen werden'. Nicht
den Sinn des Schematismus, fondern feine pfychologifche
j Genefis hat Kant für dunkel erklärt, und die Wichtig-