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Ausgabe:

1876 Nr. 20

Spalte:

514-516

Autor/Hrsg.:

Reiff, Fr.

Titel/Untertitel:

Der Glaube der Kirchen und Kirchenparteien, nach seinem Geist und inneren Zusammenhang. Ein Versuch 1876

Rezensent:

Plitt, Gustav Leopold

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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 20.

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devient pour l'eglise un docteur, im maitre. J'ai balance
avant accrire ces mots; il me semblait faire injure a son
lutmilite, et je sentais tont ce qu'il cid souffert a /es entendre;
mais ce qne hü seid se refusait a voir, neu etaitpas moins
manifeste aux yeux de tous — diefcs reiche Wirken follte
von kurzer Dauer fein. 1847 erlag Vinet in Ciarens feinen
langjährigen Leiden.

Die erfte Lekanntfchaft, die man mit Vinet zu
machen pflegt, wird durch die Chrestomathie francaise
vermittelt, diefes vorzügliche Lefebuch für die Schule.
Später lernen wir ihn kennen als einen ebenbürtig neben
den bebten feiner Sprachgenoffen flehenden Kritiker und
Litcrarhifloriker. In der frommen proteflantifchen Laien-
weit ift er bekannt und verehrt als Prediger, und wer fleh
nur einiger Mafsen eingehender mit der kirchenpolitifchen
Präge hiflorifch befchäftigt hat, der weifs, dafs Vinet
mehr als irgend ein anderer Menfch die Trennung von
Kirche und Staat, die Unabhängigkeit beider von einander
und das Princip des Freikiichenthums im Bewufst-
fein der europäifchen Welt zur Geltung gebracht hat.
Seine Wirksamkeit in diefer Hinficht hat fleh weit über
die Grenzen feiner Heimat verbreitet, und ganz neulich
noch, fpäter als das Buch von Rambert, hat ihr Caftelar,
um ein frappantes Beispiel zu nennen, Zeugnifs gegeben.

Als dielen vielfcitigcn, als Kritiker, als Journalifl,
als Kirchenvater wirkenden Mann ftellt ihn uns Rambert
dar. Es ift ein ernftes, aber nicht ermüdendes Buch,
für Leute gefchrieben, welche fleh für das echt Menschliche
und zugleich fpeeififeh Chriflliche intereffiren, nicht
für die Theologen allein. Dafs der Biograph nicht
auf dcmfclben religiöfcn Standpunkt fleht, verräth fleh
nur gelegentlich, ohne jedoch die Wärme des Tones zu
beeinträchtigen. Die zweite Auflage wurde binnen Jahres-
frifl nothwendig. Ucber die Berücksichtigung der Recen-
fionen der erften Auflage fagt der Verfaffer in der Vorrede
zur zweiten, die Mehrzahl der von ihm unberücksichtigt
gebliebenen hätte fpecielle Intereffen verrathen,
denen man nicht nachgehen könne ohne das Gleichgewicht
der Biographie zu ftören. In hohem Grade ift es
Rambert gelungen, de presenter Vkomme complet, dans
son milieu, sons toutes ses faces et a travers toutes /es phases
de son developpemeut. Es ift kein Theologe, den wir
Sprechen hören. Was Rambert die Feder in die Hand
drückte, das waren Vinct's Persönlichkeit, litcrarhiflorifche
Verdienfte, feine in "aller Scnfibilität und krankhaften
Zartheit doch fo energifche, befonnene, unermüdliche
Natur, es waren die Beflrebungen und Erfolge auf dem
praktischen Gebiete, vielleicht auch der wohlbercchtigte
Stolz des Waadtländcrs auf den Waadtländer. Die
treffenden Bilder des Lebens und Treibens in Bafel zur
Zeit, als Vinet noch dort weilte, in Laufanne, als St.
Beuvc dort gefeierter Gaft war, der Rückblick auf das
Laufanne und die Waadt des vorigen Jahrhunderts, die
politischen Ueberflchten, die Commentare zu den vielen
Stürmen im Waffcrglafe — wer erfreut fleh nicht an all
diefen Schilderungen und Erzählungen? Aber im Intereffc
von Vinet erlaube ich mir, auf die Kehrfeite der Vorzüge
feines Biographen hinzuweifen.

Rambert erzählt uns p. 283, dafs zwifchen Vinet
und den ihm am Nächsten Befreundeten oft die Rede
gewefen fei von einer Stelle, die ihn mehr als alle zuvor
ihm angetragenen reizte und die nach allgemeinem Ur-
thcil feiner Freunde der rechte Platz für ihn war, an
den ihn Gott früher oder fpäter rufen mufste. Es war
dies die Stelle als Profeffor der praktifchen Theologie
an der Akademie zu Laufanne. Vinet hat fie vorzüglich
ausgefüllt. Bei feinen Lebzeiten erfchienen keine Lehrbücher
über die von ihm vertretenen Disciplinen. Die
journaliftifche Thätigkeit, die öffentlichen Vorlefungen,
die ungefuchte und doch fo maffenhafte Arbeit als Seel-
forger und literarifche Entwürfe moralphilofophifcher
und focialpolitifchcr Natur in Verbindung mit der unmittelbar
praktifchen Aufgabe, die ihm Späterhin durch

die Gründung der freien Kirche erwuchs, licfsen kaum
' einen Gedanken an folche Profefforenfchriftftellerei in
ihm aufkommen. Nach feinem Tode aber gaben feine
Freunde feine Vorlefungen über I/omiletiquc und über die
Theologie Pastorale heraus. Ich will mich in die Analyfe
diefer claflifchen Schriften nicht cinlaffen. Sie bezeugen,
dafs allerdings gerade die Profeffur für praktische Theologie
die rechte Stelle für den Literarhistoriker und
Kritiker war. Wo finden wir, um nur Eines zu nennen,
fo eindringende und tief gründende Bemerkungen über
: das Wefen der Bcrcdtfamkcit wie in Vinet's Homiletik?
Man lefe den ganzen dritten Theil, der von der elociition
handelt, befonders das dritte Capitel snr /es qualitcs
siipericures 011 vertus du style, und vergleiche es mit dem,
was uns fonft über diefen Gegenstand geboten wird (mit
Ausnahme vielleicht von einigen Paragraphen bei Alex.
Schweizer). Die Syflematifirung war allerdings Vinet's
' Stärke nicht. Aber davon abgefehen ift, um noch ein
Anderes zu nennen, die t/ieologie pastora/e wahrlich
I heute noch eben fo lefenswerth wie je und noch fo
1 wenig veraltet wie damals, als Nitzfeh, Palmer und
Schweizer ihre vorzüglichen Bücher über die Seelforge
noch nicht gefchrieben hatten.

Gerade diefe Schriften, durch die Sich Vinet als
ebenbürtig neben die bellen Theoretiker der praktifchen
I Theologie ftellt, erfahren die fchwächfte, faft möchte man
fagen, eine entschuldigende Beurtheilung von Seiten
feines Biographen. Es ift ja wahr, dars die berühmten
! Preisaufgaben über die kirchenpolitifche Frage, die Artikel
im Semeur und in andern Zeitungen, der persönliche
Verkehr mit fo vielen Leuten aller Stände und die fyno-
dalen Verhandlungen uns eine lebendigere Anfchauung
1 davon geben, dafs Vinet wirklich ein docteur et maitre
de l'eglise gewefen. Aber wenn der praktifche Theologe
in den kirchenpolitifchen Erfolgen von Vinet ver-
j hängnifsvolle Beflrebungen und Ereignifse erblickt, fo
1 wird er doch immer wieder dankbar zu den Vorlefungen
I zurückkehren, welche die Schüler mit Sorgfalt herausgegeben
.

Dafs der Biograph diefen Verdiensten nicht gerecht
I genug geworden, mag der grofse Leferkreis wohl kaum
| fehr tief empfinden.- Ift das Bild doch nach denjenigen
j Seiten hin, welche allgemeines Intereffe erwecken, fo
anfprechend gezeichnet, der Menfch, der Gatte, der Vater,
der Schriftsteller, der Seelforger und Polemiker. Welche
Lebendigkeit, pietiftifche Innigkeit und methodiftifche
Peinlichkeit der Religiofität, und dabei welch weites
j Herz für alles Edle und Schöne, welch Starkes politisches
i und nationales Gefühl, welche Begeisterung für Gebiete,
die der Pietismus und Methodismus fonft fo weit von
Sich abweift! Es ift eine der Schleiermacher'fchen ähnliche
Natur. Auch Vinet fing, zwar nicht als Pantheift,
wohl aber als Rouffeau'fcher Tugcndfchwärmer an!
, Durch innere Kämpfe und manch fchwere Lebenser-
; fahrung arbeitete er fich zu feiner fpätem pietiftifch-
orthodoxen Weltanfchauung hindurch; aber die Luft am
i rein Menfchlichen und das Verftändnifs für weltliche
Wiffenfchaft und Kunft büfste er nicht ein. Er war ein
doppelseitig angelegter und dabei doch energifch einem
einzigen Ziele zuftrebender Geift. Nach beiden Richtungen
ift ihm Rambert's kunft- und liebevolle Darfteilung
gerecht geworden.

Strafsburg. Alfred Kraufs.

Reiff, Lehr. Fr., Der Glaube der Kirchen und Kirchenparteien
, nach feinem Geift und inneren Zufammen-
hang. Ein Verfuch. Bafel 1875, Bahnmaier. (XVI,
603 S. gr. 8.) M. 9. —

Vorliegende Schrift ift eine Symbolik und zwar eine
populäre, erwachfen aus Vorträgen für die Zöglinge der
Basler Miffionsanftalt. Die populäre Art zeigt fie durch-