01.07.2022

Kurt-Victor Selge zum Gedenken

Am 5. April 2022 verstarb in Berlin unser langjähriges Fakultätsmitglied, der Kirchenhistoriker Prof. Dr. Kurt-Victor Selge.
Kurt-Victor Selge wurde am 3. März 1933 in Bremen geboren. Er wuchs in einer hannoveraner Pastorenfamilie auf, zuerst in Asendorf, seit 1938 in Hamburg-Harburg. Vom Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie in Hamburg wechselte er 1953 unter dem Eindruck eines Gastvortrags von Gerhard von Rad an die theologische Fakultät der Universität Heidelberg. Hier wurden die Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen und Heinrich Bornkamm seine Lehrer.
Nach dem ersten theologischen Examen erhielt Selge ein Stipendium für weitere Studien an der Waldenser-Fakultät in Rom. Die Zeit dort (1958/59) weckte sein Interesse für den mittelalterlichen Katholizismus, ein der protestantischen Theologie damals eher fernliegendes Gebiet. 1961 wurde Selge mit der von Campenhausen betreuten Dissertation »Apostelberuf, apostolisches Leben und apostolische Verfassung. Die Frühgeschichte der waldensischen Pauperes spiritu (Lyon 1177–Bergamo 1218)« promoviert: Mehr denn als Armutsbewegung müsse man die Waldenser als Predigt- und Erweckungsbewegung verstehen. Die Arbeit erschien 1967 unter dem Titel »Die ersten Waldenser«, zusammen mit einer Edition des »Liber antiheresis« des Waldensers Durandus von Osca. Sie gilt als Standardwerk.
Nach seiner Promotion und einem Praktikum im Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes in Bensheim war Selge in Heidelberg Heinrich Bornkamms Assistent. Er habilitierte sich 1969 mit einer Arbeit über das Häresieverfahren gegen Martin Luther: »Normen der Christenheit im Streit um Ablaß und Kirchenautorität 1518–21«. Als Dozent, seit 1973 außerplanmäßiger Professor in Heidelberg, erlebte Selge die damaligen heftigen Auseinandersetzungen an der Universität; er positionierte sich gegen jede Dominierung wissenschaftlicher Arbeit durch politische Ziele und schloss sich dem »Bund Freiheit der Wissenschaft« an. 1973/74 war Selge Gastdozent an der University of Western Australia in Perth. Er wurde 1977 als ordentlicher Professor an die West-Berliner Kirchliche Hochschule in Zehlendorf berufen. An der Zusammenlegung der Kirchlichen Hochschule, des Ost-Berliner Sprachenkonvikts und der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität, die auf die deutsche Wiedervereinigung folgte, hatte Selge maßgeblichen Anteil. Bis zu seiner Emeritierung 2001 lehrte er an der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität. Darüber hinaus war er Gründungsmitglied der 1993 als »Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften« neukonstituierten ehemaligen Preußischen Akademie der Wissenschaften und Akademie der Wissenschaften der DDR.
Neben den Waldensern erforschte Selge Franz von Assisi und dessen Rezeption. Er publizierte wichtige Aufsätze über Franz und dessen Gönner in der Kurie, die Kardinäle Johannes von St. Paul und Hugolino von Ostia (den späteren Papst Gregor IX.), über die sich ins Negative kehrende Beurteilung Franz’ im frühen Protestantismus und (in Fortführung der Habilitationsschrift) über Luthers Auseinandersetzungen mit Thomas Cajetan und Johann Eck in den Jahren 1518/19. Für die Theologische Literaturzeitung, die Theologische Rundschau, die Historische Zeitschrift und andere Zeitschriften rezensierte er zahlreiche Bücher, besonders über die mittelalterliche Ketzergeschichte und die Reformation. Selges instruktive »Einführung in das Studium der Kirchengeschichte« von 1982 setzt ein mit der Kirchengeschichte als Forschungsgegenstand und ihrem Verhältnis zur allgemeinen Geschichte und geht über zum Problem, die Kirchengeschichte in Perioden einzuteilen, und zu den mancherlei Aspekten der Kirchengeschichte und deren wechselseitiger Abhängigkeit von- und Verflechtung ineinander: Institutionen, Kirchenrecht, Theologie, Frömmigkeit und Religionssoziologie.
Von 1979 bis 2008 leitete Selge die Berliner Schleiermacherforschungsstelle, die im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe Friedrich Schleiermachers dessen Briefwechsel und Vorlesungen ediert; bis 2009 gehörte er auch dem Herausgeberkreis der Kritischen Gesamtausgabe an. Den internationalen Kongress zu Schleiermachers 150. Todestag 1984 im damals noch geteilten Berlin, Anregung und Auftakt zu zahlreichen Studien über den einige Jahrzehnte lang eher verpönten großen Theologen, Philosophen und Philologen, hat er maßgeblich mitorganisiert. Er selbst interessierte sich besonders für Schleiermachers Verhältnis zu August Neander, der auch unter dem Eindruck der Reden »Über die Religion« und der frühen Vorlesungen Schleiermachers vom Judentum zum Protestantismus übertrat, der Erweckung nahestand und seit 1813 in Berlin als Theologieprofessor mit Schwerpunkt auf der Kirchengeschichte Schleiermachers Fakultätskollege war.
Seit den 1980er Jahren widmete Selge sich der Erforschung und Edition des Zisterzienser- und Florenserabtes Joachim von Fiore, dessen Theologie und Geschichtsphilosophie starken Einfluss auf die Franziskanerspiritualen, aber auch noch auf Lessing und den deutschen Idealismus hatte. Bis 2020 gab Selge drei der Werke Joachims kritisch heraus oder war an ihrer Edition beteiligt: den Traktat »De ultimis tribulationibus« (1993 in der Zeitschrift »Florensia« erschienen), das »Psalterium decem cordarum« (2009 in den Monumenta Germaniae historica erschienen) und die »Expositio super Apocalypsin« samt »Introductio« (1995 in den Opere di Gioacchino da Fiore und 2020 in den Opera omnia Joachims erschienen). Für »De ultimis tribulationibis« hatte er im Generalarchiv der Karmeliter in Rom eine neue Handschrift entdeckt, die eine Neuedition des Traktats nötig machte.
Die Kirchengeschichte verliert in Kurt-Victor Selge nicht nur einen gebildeten, kenntnisreichen, gewissenhaften und hochangesehenen Forscher, Lehrer und Editor, sondern auch eine originelle, eigenwillige Persönlichkeit, die Menschenkenntnis, gelegentliche Schroffheit, Großzügigkeit und Güte verband. Neben der Theologie und Geschichte galt Selges besonderes Interesse der Musik; lange Jahre war er erster Vorsitzender der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft.

Simon Gerber
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Schleiermacherforschungsstelle
Humboldt-Universität Berlin, Theologische Fakultät, Seminar für Kirchengeschichte