04.04.2022

Hans-Jürgen Greschat (3. März 1927 – 13. Januar 2022) zum Gedenken

Der Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität und die Fachgebiete Religionsgeschichte und Religionswissenschaft trauern um ihren am 13. Januar 2022 friedlich in Marburg verstorbenen emeritierten Kollegen. Prof. Dr. Hans-Jürgen Greschat war in seiner gesamten wissenschaftlichen Karriere der Universität Marburg eng verbunden und hatte dort vom Jahr 1972 bis zu seiner Emeritierung 1989 eine Professur für Religionsgeschichte inne.
Hans-Jürgen Greschats akademische Vita begann nach dem 2. Weltkrieg. Im Jahr 1927 in Insterburg im damaligen Ostpreußen geboren, hatte er zunächst den Beruf des Großhandelskaufmanns erlernt. Nach dem Krieg gelangte er nach britischer Kriegsgefangenschaft nach Frankfurt am Main, wo er schließlich in Wiesbaden das »Abitur für Nichtschüler« ablegte. Er studierte ab 1955 zwei Semester Kulturwissenschaften in Frankfurt und ab 1956 bis 1963 in Marburg Evangelische Theologie. Prägend wurden für ihn die Lehrveranstaltungen im Fach Religionsgeschichte bei Friedrich Heiler, der das Fach in breiter interdisziplinärer Vernetzung hatte etablieren können, sowie unter dessen Nachfolger Ernst Dammann, dessen Hilfskraft Greschat zunächst im Fach Afrikanistik im Orientalischen Seminar war. Greschats Perspektiven öffneten sich über den damals gängigen historisch-philologischen Fokus auf vorderorientalische, antike und indisch-asiatische Religionen hinaus in Richtung gelebter Religionen Afrikas. Wurden diese in den vorangegangenen Jahrzehnten mit missionswissenschaftlichen oder kolonialzeitlichen Interessen erschlossen, wurden sie von Greschat stets in ihrer eigenen Wertigkeit wahrgenommen.
Hans-Jürgen Greschat wurde 1966 mit der Dissertation Kitawala. Ursprung, Ausbreitung und Religion der Watch-Tower-Bewegung in Zentralafrika bei Ernst Dammann im Fach Religionsgeschichte zum Dr. Theol. promoviert und war dort ab 1963 Verwalter einer wissenschaftlichen Assistentenstelle und ab 1966 bis 1972 wissenschaftlicher Assistent. Greschats Habilitation für Religionsgeschichte in Marburg im Jahr 1971 thematisierte vor dem Hintergrund von Forschungsaufenthalten in Nigeria Westafrikanische Propheten. Sein großes Verdienst in der zweiten Hälfte der 1960er war die Dokumentation Neuer Religionen Afrikas sowie die Etablierung universitärer Zusammenarbeit mit dem Department of Religions der Universität Nsukka, Nigeria, wohin er 1966/1967 aus Marburg als Visiting Senior Lecturer abgesandt war. In der Folge seiner Habilitation wurde er 1972 zum Professor für Religionsgeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität berufen, eine Professur, die er bis 1989 ausfüllte. Damals hatte sich die Religionswissenschaft bereits auf die Fachbereiche Theologie und Philosophie ausgeweitet, und Greschat kooperierte analog zu seinen Anfängen fakultätsübergreifend, besonders fruchtbar vor allem mit Prof. Dr. Hermann Jungraithmayr, Afrikanistik, seit 1968 in der gemeinsamen Herausgabe der Zeitschrift Africa Marburgensia. Greschat war 1969 Gründungsmitglied der interdisziplinären Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD) als einer Ausgründung aus der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Neben der Professur in Marburg erhielt er zunächst Einladungen zur Lehre an die University of Nigeria in Nsukka und später an die University of Otago in Dunedin in Neuseeland sowie die Hochschule der Bundeswehr in München.
Innerhalb der überregionalen und internationalen Religionswissenschaft war er eine anerkannte Stimme großer Theorie- und Methodendebatten, die das Fach um die 1980er Jahre prägten: Dies bekundet programmatisch sein Einführungswerk ins Fach Was ist Religionswissenschaft? (1988). Als Standardmonographie eröffnete dies einer ganzen Generation Studierender der Religionswissenschaft einen Weg zu Methodenfragen und spezifischen Fachperspektiven. Der eingängige Titel verrät Greschats Wissenschaftsethos und seine herausragende Kompetenz, als sein vorrangiges Ziel sowohl im Umgang mit Gläubigen als auch innerhalb der Wissenschaft die wechselseitige Kommunikation zu suchen und zu erleichtern.
In dieser Hinsicht war er Teil und teils sogar Vorreiter eines Paradigmenwechsels hin zu empirischer Religionsforschung, zu oral und counter history. »Religionsgeschichte« verstand er nicht nur im Sinne einer deskriptiven Re- und womöglich unwillkürlichen wissenschaftlichen Neukonstruktion von Sachverhalten, sondern vor allem als ein intensives und differenziertes Kennenlernen von Innenperspektiven. Er suchte das Gespräch mit religiösen Menschen und sah die reflektierte Aufarbeitung und Repräsentation dessen als Kernaufgabe des Fachs. In diesem Kontext beschäftigte ihn in Marburger Tradition auch die materielle Kultur religiöser Praxis.
Zahlreiche Forschungsaufenthalte und Vorträge führten Hans-Jürgen Greschat in dieser Absicht in verschiedene Länder Afrikas, Asiens und nach Nordamerika. Sein besonderer Fokus waren dabei immer wieder auch die Religionen schriftloser Kulturen und die Perspektiven einfacher Gläubiger, denen er mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten eine Stimme verlieh.
Die gleiche Haltung und zudem eine große Expertise auch in den »großen« Religionen belegte seine nach wie vor lesenswerte Einführung für Studierende Die Religion der Buddhisten (1980). Dort gab er in einschlägiger Weise empirische Einblicke und verschaffte emischen Stimmen Gehör, die den Buddhismus weniger in Parametern westlicher Rezeption, Philologie und Philosophie als in Lebenswirklichkeiten von Buddhistinnen und Buddhisten in diversen Ländern Asiens nahebringen, die er auf Forschungsreisen erkundete.
Dass er ein international geschätzter Kollege und wegweisender akademischer Lehrer war, bekundet die ihm anlässlich seines 70. Geburtstags gewidmete umfangreiche Festschrift Living Faith – lebendige religiöse Wirklichkeit. Festschrift für Hans-Jürgen Greschat (1997). Die dortigen Beiträge spiegeln noch einmal die Interessen und fachlichen Kontakte des Geehrten, welche Afrikanistik, Religionswissenschaft und Theologie und thematisch viele Felder umspannten, von Afrika bis zu den Maori in Neuseeland, für deren Religion und Kultur er ebenfalls als anerkannter Fachmann galt. Das Werk bietet eine Bibliographie der bis dahin erschienen Arbeiten Greschats. Im Jahr 2017 durften ihn Weggefährten, Fachgebiet und Fachbereich zum 90. Geburtstag noch einmal ehren.
Auch nach seiner aktiven Zeit lebte er mit seiner Ehefrau Elisabeth Greschat in Marburg, wo das Paar akademische Kreise noch lange weiter bereicherte. Hans-Jürgen Greschats kleine Schrift Unterwegs zu fremden Religionen (2015) mit Illustration zahlreicher religiöser Objekte, sowohl aus der Religionskundlichen Sammlung als auch aus Privatbesitz, setzt einen deutlichen Akzent in Richtung materieller Kultur als Ausdruck des religiösen Lebens, dem nachzuspüren er sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Sein dortiger Essay über eine Figur der Igbo, einer Bevölkerungsgruppe, die er Jahrzehnte zuvor bei seinem Aufenthalt in Nigeria näher kennenlernte, rundet sein Schaffen ab und verrät biographische Muster: Kriegs- und Nachkriegserfahrung führten ihn zu Theologie und Religionen, dramatische Unruhen und Militärdiktatur während seines Aufenthalts 1966/1967, in der Nachfolge der Nigerianischen Unabhängigkeit 1960, verarbeitete er mit Empathie für die Menschen, denen er begegnete, und für ihre Weltanschauungen und religiöse Praxis.
Die Kolleginnen und Kollegen seiner aktiven Wirkungszeit und alle, die ihn im Nachgang kennen- und schätzen lernten, werden Hans-Jürgen Greschat als menschlich überaus zugewandte und gleichzeitig reflektierte Wissenschaftlerpersönlichkeit in Erinnerung behalten, die dem Fach und dem Standort Marburg viele wertvolle Impulse hinterlässt.

Bärbel Beinhauer-Köhler, Fachgebiet Religionsgeschichte der Philipps-Universität Marburg