06.12.2013
Tagungsbericht »Confessio im Barock. Religiöse Wahrnehmungsformationen im 17. Jahrhundert« (Wuppertal, 15. – 17. November 2013)
Das 17. Jahrhundert ist europaweit in vielerlei Hinsicht ein konfliktreiches, so auch und gerade auf der Ebene der Religion und Frömmigkeit. Dabei prägen die Wahrnehmungsmuster, die hinter den interkonfessionellen und interreligiösen Debatten stehen, zwangsläufig die Hermeneutik der Debattierenden: Selbst- und Fremdwahrnehmung bedingen einander und nehmen in ihrer Wechselbeziehung Einfluss auf die mediale Kommunikation. Dieses In- und Miteinander von Selbst- und Fremdwahrnehmung in interkonfessionellen oder interreligiösen Debatten findet naturgemäß nicht im konfessionell-religiös luftleeren Raum statt; vielmehr scheint doch mit der eigenen Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung des Gegenübers in derartigen Diskursen der Akt des eigenen, also des individuell-subjektiven Bekennens einherzugehen: Ob beispielsweise ein theologischer Traktat als irenisch oder polemisch zu deklarieren ist, hängt nicht zuletzt von der darin artikulierten confessio des Autors und ihrer Wahrnehmung durch die Rezipienten des Werkes ab.
Diesem Gefüge von artikulierter, konfessionell und institutionell geprägter Selbst- und Fremdwahrnehmung als öffentlicher confessio in interreligiösen oder interkonfessionellen diskursiven Kontexten des 17. Jahrhunderts, terminologisch durch den heuristischen Begriff der Wahrnehmungsformation erfasst, war nun die hier anzuzeigende interdisziplinäre Tagung gewidmet, die unter Leitung von Malte van Spankeren (Halle) und Christian V. Witt (Wuppertal) mit großzügiger Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung vom 15. bis zum 17. November 2013 in Wuppertal stattfand. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer spiegelten ein weites Spektrum geisteswissenschaftlicher Disziplinen wider: Vertreterinnen und Vertreter der evangelischen und katholischen Theologie, der Germanistik und der Geschichtswissenschaft brachten ihre jeweilige fachwissenschaftliche Expertise in den interdisziplinären Diskurs ein.
Eröffnet wurde die Tagung durch den Vortrag »Keine Irenik ohne Polemik. Kontroverstheologische Wahrnehmungsformationen am Beispiel des David Pareus« von Christian V. Witt (Wuppertal), der am Beispiel des genannten reformierten Kontroverstheologen dem Verhältnis von Irenik und Polemik in dessen Hauptwerk, dem Irenicum von 1614, nachging. Das Referat fragte nach dem Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung des Werks als irenisch oder polemisch und der Selbst- sowie Fremdwahrnehmung des Autors einerseits, seiner Leser anderseits. Dabei führte es den Begriff der Wahrnehmungsformation ein und gelangte so zu der These, dass die Beantwortung der Frage, ob ein Debattenbeitrag als irenisch oder polemisch zu stehen kommt, nicht an wie auch immer genauer zu definierenden objektiven Kriterien hängt, sondern am In- und Miteinander von Selbst- und Fremdwahrnehmung auf Seiten der Debattenteilnehmer.
Dem Eröffnungsvortrag schloss sich das Referat von Mona Garloff (Stuttgart) an. Unter dem Titel »Konfessionelle Grenzen und ihre Überschreitung. Religiöses Friedensdenken um 1600 am Beispiel des französischen Irenikers Jean Hotman (1552–1636)« widmete auch sie sich der sog. »reformierten Irenik« und nahm dazu den französischen Laien Jean Hotman in den Blick: Durch die Erfahrungen der französischen Religionskriege und die konfessionelle Pluralität innerhalb der eigenen Familie geprägt, suchte er unter Rekurs auf die Alte Kirche als sancta antiquitas nach Begründungsfiguren für den interkonfessionellen Ausgleich. Dabei unterlag er im Gegensatz zu zeitgenössischen und konfessionsverwandten Theologen wie beispielsweise Pareus nicht der argumentativen Notwendigkeit, öffentlichkeitswirksam eine bestehende, nämlich die eigene Konfession mit der Trägerin der christlichen Wahrheit zu identifizieren, was seinen irenischen Vorstößen einen ganz anderen Grad an Plausibilität verschafft. Doch auch der Verzicht auf die Artikulation der aus der genannten Identifizierung resultierenden Selbstwahrnehmung führte nicht zum Erfolg seines Ausgleichsprogramms, was nicht zuletzt die Frage nach indirekten Artikulationsmöglichkeiten und überindividuellen Prägefaktoren von Wahrnehmungsformationen aufwirft.
Im Anschluss an die ersten zwei Vorträge sprach Hellmut Zschoch als Rektor der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel ein Grußwort, bevor Christoph T. Nooke (Münster) versuchte, sich der Frage nach dem Fundamentalen in der Konfession und nach seiner Wahrnehmung über eine Analyse ausgewählter Entwürfe der Symbolik/Konfessionskunde zu nähern. Leitend war dabei die Beobachtung, dass die Identität der jeweiligen Konfessionen ja nach Entwurf und der damit artikulierten Wahrnehmungsformation an ganz unterschiedlichen Ankerpunkten festgemacht wurde, was sich wiederum auch auf das transportierte Bild des 17. Jahrhunderts auswirkte. Zum Abschluss des ersten Tages betrachtete Christopher Voigt-Goy (Mainz) in seinem Vortrag »Das ›exercitium religionis‹ Reformierter in lutherischen Responsa vor 1648«. Ausgehend von der Beobachtung, dass lutherische Fakultätsgutachten einen bislang kaum genutzten historiographischen Zugang zu frühneuzeitlichen Konfessionskonflikten, konfessionellen Pluralisierungsprozessen und interkonfessionellen Wahrnehmungsformationen bieten, schilderte Voigt-Goy zwei Beispiele der Beratung des lutherisch-reformierten Konfessionsverhältnisses durch lutherische theologische Fakultäten aus den 1620er Jahren. An den nach Hamburg und Kniphausen gehenden Gutachten, vor allem aus Wittenberg und Leipzig, wurde herausgearbeitet, dass sie zwar einem gemeinsamen, durch die lutherische Adiaphoralehre bestimmten Normhorizont verpflichtet sind, diesen Horizont aber in teils gegenläufiger Richtung ausdeuteten: Die dogmatische Grenzziehung und die pastoraltheologische Grenzüberschreitung zum Reformiertentum traten so als gleichwertige Optionen der theologisch begründeten Gestaltung konfessioneller Koexistenz im Konkordienluthertum hervor.
Den zweiten Tag eröffnete Malte van Spankeren (Halle). Er untersuchte in seinem Vortrag »Die Türken als Räuber. Die Wahrnehmung des Islams im deutschen Protestantismus im Kontext der zweiten osmanischen Belagerung Wiens 1683« protestantische Wahrnehmungsmuster bezüglich der Osmanen. Zunächst wurden dafür die Begriffe »Türke« und »Türkengefahr« und der ihnen zugrunde liegende semantische Gehalt für das 16. und 17. Jahrhundert näher beschrieben. Anschließend wurde anhand zweier lutherischer Theologen des 17. Jahrhunderts (Ph. Nicolai und H. Ammersbach) die Langlebigkeit der reformatorischen »Türkenwahrnehmung«, die freilich ihrerseits zum Teil an mittelalterliche Wahrnehmungsformationen anknüpft, dargestellt. Das anschließende Referat von Viktoria Franke (Halle) nahm unter dem Titel »Mit Gott auf Brecklings Seite: Türkenbild und protestantische Identität beim Radikalpietisten Friedrich Breckling« ebenfalls die Türkenwahrnehmung in Blick, nämlich die des individualistischen Dissidenten Breckling. Es wurde dargelegt, wie Breckling einerseits seine Türkenwahrnehmung zur innerkonfessionellen Polemik instrumentalisierte, wie er aber andererseits einen neuen, modernen Türkendiskurs führte: Er nahm »den Türken« eben nicht mehr nur als von Gott verordnete Geißel Europas und des Christentums wahr, sondern auch als gewissensbegabten Menschen, der nicht zuletzt aufgrund seiner Toleranz Vorbild auch für Christen sein konnte. Dadurch gelangte er insgesamt zu einer bemerkenswerten Erweiterung seiner Perspektive auf die Welt seiner Zeit, die vielen seiner theologisch gebildeten Zeitgenossen noch unerschwinglich war.
Es folgte die in Frankes Vortrag bereits mitschwingende Ausdehnung der Perspektive auf Ost- und Westeuropa am Beispiel dortiger inter- und innerkonfessioneller Diskurse: Damien Tricoire (Halle) verteidigte in seinem Beitrag die These, man könne in Bezug auf die Konfessionspolitik Ladislaus’ IV. von Polen kaum von Toleranz und Irenik reden. Zwar hatte Ladislaus ein Religionsgespräch initiiert, aber er wollte dabei mitnichten über katholische Dogmen und Riten verhandeln; die Unangreifbarkeit der dogmatischen Grundlagen der Papstkirche stand ihm außer Frage, weshalb er lediglich nach Optionen suchte, die konfessionelle Spaltung durch Rückführung der »Abgefallenen« zu beseitigen. So wandte sich Tricoire kritisch gegen Forschungsthesen, die einen spezifisch polnischen, von Toleranz und Verständnis für die Existenzberechtigung des Gegenübers geprägten Umgang mit konfessioneller Differenz vermuten. Dem katholischen Umgang mit Differenz und Pluralität widmete sich auch Milan Wehnert (Tübingen), allerdings am Beispiel westeuropäischer innerkatholischer Diskurse. In seinem Referat »Anti-Jesuitische Bekenntnisse. Innerlichkeit, Distinktion und Selbstempfinden gallikanischer Geistlicher in den Pariser 1630er Jahren« befasste er sich mit dem angespannten Verhältnis zwischen dem Jesuitenorden einerseits, der französischen Bischofskirche andererseits. In direkter Aufnahme und gezielter theologischer sowie kirchenpolitischer Umwertung jesuitischer Frömmigkeitspraxis, wie sie beispielsweise in den berühmten Exerzitien ihren Niederschlag gefunden hat, suchten weltgeistliche Vertreter des Gallikanismus den für die Existenz der episkopalen Organisation der französischen Kirche als bedrohlich eingestuften Umtrieben der Jesuiten Einhalt zu gebieten. Dabei rang man nicht zuletzt um die Frage, welche der konkurrierenden Realisationsformen eigentlich als »orthodox« gelten konnte und entsprechend wahrgenommen werden sollte, welche Richtung sich also zurecht als römisch-katholisch bekannte.
Auch im westeuropäischen Protestantismus wurden Debatten um die Frage nach der adäquaten Füllung des Orthodoxiebegriffs geführt: So war die konstruktive theologische Descartesrezeption in den Niederlanden ab 1650, wie Kai-Ole Eberhardt (Münster) herausstellte, einer massiven Kritik ausgesetzt, in der die Orthodoxie sogenannter cartesianischer Theologen in grundsätzlicher Weise in Frage gestellt wurde. Anhand des Streits zwischen dem Anticartesianer Samuel Maresius und seinem ehemaligen Schüler, dem procartesianischen Theologen Christoph Wittich, ließ sich exemplarisch zeigen, dass beide Parteien grundsätzlich von einem gemeinsamen Orthodoxiebegriff ausgingen, der auf der Bindung an die Bibel, reformierten Bekenntnisschriften und dem Dienst an der Wahrheit fußte. Während Maresius jedoch den Wahrheitsbegriff eng an die theologische Tradition band, die es gegen die Neuerungen des Cartesianismus zu verteidigen gelte, verwies Wittich auf die Notwendigkeit des Fortschritts bei der Entfaltung theologischer Wahrheit. Der Rekurs auf den wahrnehmungssteuernden Begriff Orthodoxie erwies sich eben wegen dieser divergierenden Implikationen als ungeeignetes Kriterium für eine Klärung und Aufhebung der Differenzen. Er genügte allerdings zur Bestimmung des Rahmens, in welchem sich Theologie zu entfalten hatte, insofern er radikale Rationalisten entlarvte.
Während in den vorangegangenen Vorträgen schwerpunktmäßig theologische Traktate im Mittelpunkt standen, befasste sich unter Erschließung ganz anders gearteter Quellen Eva Brugger (Konstanz) mit Confessio-Szenen in der Wallfahrt im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert. Anhand von gedruckten Mirakel- und Gnadenbüchern, einem interessanten Medium konfessionell gebundener Selbstwahrnehmung, arbeitete sie in ihrem Beitrag die Spannung zwischen persönlichem Gnadenerlebnis einerseits und den medialen Praktiken des Aufschreibens und Verwaltens andererseits heraus und konnte dabei zeigen, dass sich die Praktiken der Gnadenvermittlung zeitgenössisch ebenso wandeln wie die sozialen Bedingungen des Frömmigkeitsvollzuges als Akt des Bekennens. Die mediale Vielfalt vor allem im barocken Rom, der sich Informationen über interkonfessionelle Wahrnehmungsformationen entnehmen lassen, beleuchtete Arne Karsten (Wuppertal): In seinem Vortrag über »Trophäen im Glaubenskampf. Konvertiten im frühneuzeitlichen Rom« untersuchte er die Wahrnehmung von und den daraus resultierenden Umgang mit prominenten Konvertiten im Rom des 17. Jahrhunderts. Anhand des Gelehrten Lucas Holsten, des nachgeborenen Fürstensohns Friedrich von Hessen Darmstadt und der Königin Christina von Schweden zeigte sich die hohe Aufmerksamkeit, die man im kurialen Umfeld den Konversionen entgegenbrachte, ebenso wie der letztlich begrenzte Nutzen selbst prominenter Glaubenswechsel für die propagandistische Auseinandersetzung mit dem Protestantismus.
Der dritte Tag begann schließlich mit dem Referat »Interkonfessionelle Flugblattpolemik. Zur Confessio ex negativo in der Frühen Neuzeit« von Nina-Maria Klug (Kassel). Mit ihrem Beitrag nahm sie die Frage nach den Zusammenhängen von Wahrnehmungsformation und Bekenntnisakt aus sprachwissenschaftlicher Perspektive in den Blick und zeigte, welche kommunikativen Strategien im nachtridentinischen 16. und frühen 17. Jahrhundert von lutherischer und römisch-katholischer Seite genutzt wurden, um durch Sprache und Bild des illustrierten Flugblatts ein möglichst öffentlichkeitswirksames Negativ-Konzept der jeweils anderen konfessionellen Gemeinschaft zu konstituieren. Anhand ausgewählter Mechanismen der Prädikationsbildung, die in der Gestaltung der Flugblätter betätigt wurden, wurden auf beiden Seiten Wahrnehmungsmuster verstetigt, die ihrerseits Einfluss nahmen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung des anderskonfessionellen Gegenübers und so wiederum auf dessen Flugblattgestaltung und die darin artikulierten Prädikationen wirkten.
Die Tagung, deren Beiträge und Diskussionen nicht zuletzt zur kritischen Hinterfragung etablierter Begrifflichkeiten wie beispielsweise »Irenik«, »Polemik«, »Identität«, »Toleranz«, »Orthodoxie« oder »Konfession« führten und so den historiographischen Wert der Erschließung und Analyse von Wahrnehmungsformationen unterstrichen, wurde insgesamt sowohl von den Referentinnen und Referenten als auch von den angereisten Gästen, die ihre Expertisen ebenfalls in die regen Diskussionen mit einbrachten, als ausgesprochen anregend und fruchtbar gewürdigt. Die Ergebnisse des Austauschs zur interdisziplinären Erforschung des 17. Jahrhunderts sollen in absehbarer Zeit in einem Sammelband publiziert werden. Abschließend wurde vereinbart, eine Fortsetzung der gemeinsamen Arbeit am Thema ins Auge zu fassen.
Wuppertal, 3. Dezember 2013
Christian Witt