01.03.2013

»Umstrittener Kultus. Religionspraktische Reformen im 18. Jahrhundert« Tagungsbericht von der 12. Tagung des Arbeitskreises Religion und Aufklärung, 16.–18.11.2012 in Wittenberg

Das Zeitalter der Aufklärung zog auch in religionspraktischer Hinsicht vielfältige Konsequenzen nach sich, die sich zwar nicht allein, aber doch vorwiegend in liturgischer und homiletischer Hinsicht niederschlugen. Dank der großzügigen Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung konnten einige dieser Umformungsprozesse auf der interdisziplinär und international besetzten 12. Tagung des unter der Leitung von Albrecht Beutel (Münster), Thomas K. Kuhn (Greifswald) und Markus Wriedt (Frankfurt a. M.) stehenden Arbeitskreises »Religion und Aufklärung« vom 16. bis zum 18. November 2012 in Wittenberg exemplarisch vorgestellt und analysiert werden.
Charakteristische Beiträge zur aufklärerischen Homiletik standen am Beginn der Tagung, die von Claus Dieter Osthövener (Wuppertal) mit dem Vortrag »Aneignung der Schrift. Die biblische Paraphrase im 18. Jahrhundert« eröffnet wurde. Osthövener zeigte, wie in der englischen Aufklärung, ausgehend von John Locke und über dessen Rezeption, sich in Deutschland die biblische Paraphrase zu einer ganz eigenen Weise der Aneignung der Bibel in hermeneutischer, erbaulicher und pädagogischer Absicht entwickelt hat. Die Paraphrase stellte damit ein wichtiges Bindeglied dar zwischen der dogmatisch gebundenen und der historisch-kritischen Auslegung der Bibel. Anschließend ging Lisa Tessarek (Wuppertal) näher auf »Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem« und dessen »Aufgeklärte Predigt« ein. Unter aufgeklärter bzw. aufklärender Predigt verstand Jerusalem eine Form der Kanzelrede, die von einem umfassend gebildeten und religiös authentischen Prediger vorzutragen war und sowohl den Verstand der Zuhörer anregen als auch ihr Herz bewegen sollte. Zentrales Ziel war die Erbauung und Erweckung einer mündigen Religiosität des Einzelnen. Wie der neben Jerusalem berühmteste Prediger der Aufklärung, Johann Joachim Spalding, den Begriff der Bestimmung verstand, untersuchte anschließend Laura Ann Macor (Padua). Als Spalding 1748 den Begriff ›Bestimmung des Menschen‹ in das Sprachgut der Aufklärung einführte, stellte er nicht nur die Basis für eine religions-, moral- und geschichtsphilosophisch umfangreiche Rezeptionsmöglichkeit bereit, sondern veranlasste auch wichtige sprachliche Betrachtungen über den Begriff selbst sowie über das mehrdeutige Substantiv ›Bestimmung‹. Macor untersuchte im Zuge ihrer Nachzeichnung der sprachlichen und gedanklichen Rezeption des Bestimmungsbegriffs unter anderem, wie verschiedene Wörter (›Bestimmung‹, ›Beruf(ung)‹, ›Widmung‹) sowie unterschiedliche Auffassungen von ein und demselben Terminus (Bestimmung als Endzweck qua Bestimmtsein und Bestimmung als Akt des Bestimmens, und genauer: des Sich-Selbst-Bestimmens) zum Teil in Konkurrenz zueinander gerieten und dadurch zu diversen Begriffsbestimmungen führten.
Im Anschluss widmete sich Christian Volkmar Witt (Wuppertal) dem römisch-katholischen Bereich, wofür er den Theologen Johann Michael Sailer vorstellte. Witt nahm insbesondere den Predigtlehrer und Prediger Sailer in den Blick und untersuchte dessen Verhältnis zur Aufklärung. Dabei erzeigte sich Sailer als ein Kind der Aufklärung, das seine Zuhörer von der Kanzel aus zu einer differenzierten Wahrnehmung ihrer Gegenwart aufrief, und somit als katholischer Aufklärer gelten kann. Den Abschluss der ersten Arbeitseinheit bildete ein Vortrag von Malte van Spankeren (Münster/Erfurt), der die komplizierte Berufung Schleiermachers auf seine erste Professur in Halle 1804 darstellte und anschließend insbesondere auf die von Schleiermacher geforderte Wiedereinrichtung des halleschen Universitätsgottesdienstes näher einging.
Am Abend referierte Olga Söntgerath (Telgte) eingehend über das am Lehrstuhl Albrecht Beutel (Münster) geplante Großprojekt einer zehn Bände umfassenden »Bibliothek der Neologie«, das nach gründlichen Vorbereitungen im Sommer 2013 in Angriff genommen werden soll.
Der sakramentalen Praxis der Kultreformen in Bezug auf das Abendmahl gingen Dorothea Wendebourg (Berlin) und Martha Nooke (Münster) nach. Nooke zeigte unter dem Titel »Ist das Abendmahl auch für Aufgeklärte? Johann Gottlieb Töllners Abendmahlsschrift als Beitrag zur Rettung des Abendmahls im 18. Jahrhundert«, wie durch die Akzentverlagerung auf Nutzen und Wirkung des Abendmahls bei Töllner dessen bleibende Relevanz behauptet und eine Einheit im Lehrbegriff zwischen Lutheranern und Reformierten festgestellt wurde. Um Missverständnissen und dem Fernbleiben vom Abendmahl wirksam zu begegnen, forderte Töllner als religionspraktische Konsequenz eine Aufklärung über den rechten Begriff und Gebrauch vom Abendmahl sowie eine Verbesserung der liturgischen Bücher. Im Anschluss erörterte D. Wendebourg relevante »Veränderungen der Abendmahlsliturgie«. Sie zeigte zunächst die methodischen Schwierigkeiten, die sich der Erforschung liturgischer Wirkungen der Aufklärung entgegenstellen, und behandelte dann die Folgen der Aufklärung für die lutherische Abendmahlsliturgie.
Die Ohrenbeichte untersuchte Markus Bleeke (Jena) unter dem Titel »Kontinuitäten und Veränderungen in der Beichtpraxis am Beispiel Jenas um 1800«. Bleeke zeigte für das sachsen-weimarische Jena, dass sich die Ohrenbeichte als einzige Form der Beichte trotz des aufgeklärten Umfeldes über die Jahrhundertwende hinaus halten konnte.
Dirk Fleischer (Reken) zeichnete unter dem Titel »Von Betrügereien und Besessenheitsglauben. Zum Plausibilitätsverlust des Exorcismus« nach, wie sich anhand der unterschiedlichen Beurteilung magisch-abergläubischer Denk- und Verhaltensweisen grundlegende Differenzen zwischen einem der Aufklärung verpflichteten Protestantismus und dem deutschen Katholizismus ergaben. Während der Protestantismus mit seinem Interesse an einer modernitätsfähigen Vermittlung von religiöser Tradition und gegenwärtiger Kultur die dämonologische Deutung von Krankheiten und die Vorstellung von einer physischen Besitzergreifung des Menschen durch den Teufel aus seinem theologischen Programm gestrichen hatte, verharrte der Katholizismus, freilich mit Ausnahmen, hinsichtlich des Exorzismus überwiegend in dämonologischen Denkmustern.
Die Darstellung der liturgischen Umformungsprozesse eröffnete Christoph Nooke (Münster) in seinem Vortrag »Kult – Erziehung – Aufklärung? Der Pfarrer in Gottlieb Jakob Plancks Roman ›Das erste Amtsjahr des Pfarrers von S.‹ (1823)«. Nooke zeigte, wie in dieser »Pastoraltheologie in der Form einer Geschichte« der Pfarrer vorrangig als Erzieher und Sozialreformer fungierte, wobei er sich aber nicht einfach als idealtypisches Modell des aufgeklärten Pfarrers greifen lässt. Anschließend stellte Anselm Schubert (Erlangen) »Jablonskis Traum. Die anglikanisch-preußische Unionsliturgie von 1710« eingehend vor. Die achtteilige Gottesdienstordnung Jablonskis, deren Hauptziel in der Erweckung der Frömmigkeit bestand und in der die Predigt bezeichnenderweise kein Teil des Gottesdienstes mehr war, stellte, wie Schubert zeigen konnte, die Adaption einer Gottesdienstordnung aus Neuchatel von 1708 dar.
Im Anschluss referierte Andres Straßberger (Chemnitz) über die »Reform des Perikopenwesens in Kursachsen unter Franz Volkmar Reinhard«. Unter der Führung des Dresdener Oberhofpredigers kam es in den Jahren 1810 und 1811 zur landesweiten Erprobung zweier vollständig neuer Perikopenreihen. Ihre Implementierung in einen ab 1812 geplanten vierjährigen Zyklus aus alten und neuen Perikopen gelangte allerdings aufgrund von (kirchen-) politischen und personalen Gründen (Tod Reinhards 1812) nicht zur Umsetzung. Anschließend erweiterte Thomas K. Kuhn (Greifswald) die liturgische Perspektive um einen Vortrag zum Begräbniswesen: »Vom Kirchhof zum ›Todtengarten‹. Die Bestattung in der Kritik der Aufklärung.« Der Vortrag zeichnete wesentliche spätaufklärerische Kritikpunkte wie Neuerungen bezüglich der Bestattungspraxis und deren theoretische Diskursstränge nach und zeigte deren Verortung in den zeitgenössischen medizinischen und hygienischen Kontexten auf. Zu den religionspraktischen Reformen gehörten auch ein verändertes Verständnis der Bestattungspredigt sowie neue Formen der theologischen Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Dabei wurden auch alltagsreligiöse Aspekte in den Blick genommen. Sodann illustrierte Daniela Kohler (Zürich) anhand von »Lavaters Abendgebetsreform am Beispiel der Apokalypse-Exegese«, wie Lavater in der Auseinandersetzung mit Spaldings und Herders Ansichten über das Predigtamt seine eigene diesbezügliche, die Emotionalität als Mittel zum Verständnis des Predigtinhalts betonende Theorie entwickelte und diese in seinen Abendgebeten zur Apokalypse in die Praxis umzusetzen versuchte.
Den abschließenden Sonntagmorgen eröffnete Christoph Bultmann mit einem »Kommentar zu Jonathan Israel’s Enlightenment Trilogie«. Bultmann zeigte, dass Israels Ordnungsraster »radical Enlightenment«, »moderate mainstream Enlightenment« und »Counter-Enlightenment« den Debatten der Zeit zwischen 1650 und 1790 im Wesentlichen nicht gerecht wird, weil der Sammelbegriff der Radikalaufklärung zu schematisch gehandhabt wird. So sucht Israel eine Kontinuitätslinie von Spinoza zu Diderot und d’Holbach und weiter über die Französische Revolution zu den Grundwerten der liberalen Demokratie zu konstruieren, die ihre Konsistenz im Wesentlichen durch das metaphysische Postulat eines Materialismus gewinnen soll. Das Thema der sog. natürlichen Religion und deren moralphilosophischer Implikationen wird dabei allerdings genauso vernachlässigt wie die Frage der Anthropologie.
Anschließend stellte Marc Bergermann (Berlin) »[d]ie protestantische Kirchengeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts über den pelagianischen Streit und dessen Antagonisten Augustinus und Pelagius« dar. Der Vortrag befasste sich mit der Rezeption und Darstellung des pelagianischen Streites in der protestantischen Historiographie der späteren Aufklärung. Dabei wurde eine Überscheidung der dogmatischen Positionen des Streites mit denen der Aufklärungszeit aufgezeigt, die sich in einzelnen Kirchenhistorien niederschlug. Valentin Wendebourg (Paris) ging auf verschiedene »Debatten zur Historisierung des Schriftverständnisses zwischen 1750 und 1780« ein. In den »Göttinger Gelehrten Anzeigen« setzte seit 1752 eine verstärkte Rezeption der Bibelkritik Henry Bolingbrokes ein, die zumeist in kritisch-apologetischer Absicht erfolgte. Diese Diskussionen spiegelten wesentliche Argumente und Argumentationsmuster der Bibelkritik im 18. Jahrhundert wider. Den Abschluss der Tagung übernahm Michael Thiele (Frankfurt a. M.) mit seinem Vortrag »Vom Vollzug des Cultus: Die Actio der aufgeklärten Predigt«. Thiele stellte einige exemplarische, von pietistisch geprägten Homiletikern vorgelegte Anweisungen zum lebendigen Predigtvortrag vor. Insbesondere der Begriff des Gefühls bei der von der Aufklärung anvisierten »Hertzens-predigt« wurde von der Neologie übernommen und weiter ästhetisiert.
Die Tagung wurde von allen Teilnehmenden (neben den Referenten waren 18 Zuhörer angereist) als außerordentlich erfolgreich und anregend gewürdigt. Die Ergebnisse sollen in absehbarer Zeit in einem Sammelband publiziert werden.
Abschließend wurde vereinbart, die nächste Tagung des Wittenberger Arbeitskreises unter das Thema der »Spätaufklärung (1789–1815)« zu stellen. Als Termin steht bereits das Wochenende vom 13. bis 15.12.2013 fest.

Münster/Erfurt
Malte van Spankeren