19.07.2022

»Zwischen Eindeutigkeit und Ambiguität. Interdisziplinäre Perspektiven auf Religion in der Moderne« – Internationale DFG-Tagung vom 7. bis 9. April 2022 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Tagungsleitung: Dr. Katharina Wörn, Dr. Mirjam Sauer

Ambiguität ist ein Begriff mit Konjunktur. Längst findet sich die Rede vom Ambigen, Mehrdeutigen, Uneindeutigen nicht mehr nur innerhalb verschiedener Wissenschaftsdisziplinen; auch Feuilletons, Radiosendungen und Podcasts ziehen die Kategorie des Ambigen – oft verbunden mit dem Ruf nach mehr ›Ambiguitätstoleranz‹ – zur Deutung der gegenwärtigen Lebenswelt und ihrer Herausforderungen heran.

Eine Thematisierung des Verhältnisses von Religion und Ambiguität findet aktuell vor allem im Rahmen soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Deutungen der (Spät-)Moderne statt, die dabei wahlweise als großer Versuch der Vereindeutigung und damit der Ambiguitätsvernichtung gelesen wird – oder aber als Prozess der Pluralisierung bzw. Individualisierung und damit als ein Zuwachs an Mehrdeutigkeit. In beiden Fällen beschränkt sich die Rolle ›der‹ Religion darauf, als Symptom für das jeweilige Narrativ in Anspruch genommen zu werden. Keine weitergehende Beachtung finden bisher hingegen solche theologischen wie nicht-theologischen Konzepte, die Religion selbst als ein tief ambiges Phänomen bestimmen und damit ein Verständnis von Religion als Laboratorium für den Umgang mit Ambiguität und die Erprobung von Ambiguitätstoleranz nahelegen. Inwieweit aber lässt sich von Religion selbst als einem ambigen Phänomen sprechen? Und wie verhält sich diese Bestimmung zu der Rolle von Religion für den Umgang mit Ambiguitäten in der modernen Lebenswelt? Welche kontextuellen Bedingungen stärken die ambiguitätsfreundlichen Potentiale von Religion, wann wirkt Religion vereindeutigend? Und ist Letzteres immer negativ zu bewerten, oder kann Religion als temporale Vereindeutigungsinstanz gerade zu einem produktiveren, gelassenen Umgang mit Ambiguitäten in der (Spät)Moderne beitragen?

Diesen Fragen aus interdisziplinärer Perspektive nachzugehen und damit den Zusammenhang von Moderne, Religion, Ambiguität und Eindeutigkeit differenziert zu analysieren, war das zentrale Anliegen der internationalen DFG-Tagung, die mit einer Zusatzförderung der Ernst-Abbe-Stiftung vom 7. bis 9. April 2022 an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena stattfand. Drei thematische Blöcke strukturierten die Tagung: Ein erster Block zum Thema »Religiöse Identität zwischen Eindeutigkeit und Ambiguität« nahm insbesondere ökumenische und ethische Perspektiven sowie die kontextsensible Betrachtung von religiöser Identität mit Blick auf das Verhältnis von Religion und Ambiguität in den Fokus. Ein zweiter Block zu »Religionstheorie zwischen Eindeutigkeit und Ambiguität« behandelte verschiedene »Klassiker« protestantischer Theoriebildung (Schleiermacher, Barth, Tillich) und deren Verhältnisbestimmung von Religion und Ambiguität. Ein dritter, interdisziplinär ausgerichteter Block fokussierte sich auf »Religion als kultureller Ausdruck von Ambiguität« und präsentierte aus der Perspektive verschiedener Wissenschaftsdisziplinen (Soziologie, Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft) Beiträge zum Verhältnis von Religion und Ambiguität. Die zentralen Aspekte der einzelnen Vorträge seien im Folgenden kurz skizziert.

Prof. Dr. Julia Knop (Erfurt) unternahm aus katholisch-dogmatischer Perspektive den Auftakt in den ersten Block mit einem Vortrag über das Gegenwartsphänomen religiöser Indifferenz. Sie stellte vier theologische Konstellationen vor, in denen ›Indifferenz‹ und ›Identität‹ verschiedentlich thematisiert werden und wie gerade das System Religion oder Kirche durch die Anwesenheit religiöse Indifferenter eine Steigerung von Komplexität respektive Ambiguität erfährt. Im Anschluss präsentierte Prof. Dr. Miriam Rose (Jena) eine evangelische Perspektive auf »Konfessionelle Unterschiede im Umgang mit Ambiguität«. Sie unterschied drei Typen der Ambiguität des Religiösen – die Mehrdeutigkeit der Biblischen Texte, die Doppelbedeutung im Abendmahl und die Ambivalenz der Sündenlehre – und führte jeweils konfessionelle Unterschiede im Umgang mit diesen Ambiguitäten vor. Den ersten Nachmittag komplettierte der Vortrag von Dr. Mario Fischer (Wien), der verschiedene ekklesiologische Perspektiven auf das Spannungsverhältnis von Einheit und Vielfalt vorstellte und mit erkenntnistheoretischen Einsichten zum Verhältnis von Eindeutigkeit und Ambiguität verband.

Der Alttestamentler Prof. Dr. Daniele Garrone (Rom) beleuchtete in einem historischen und narrativen Zugang das Thema Diasporaidentität im Spannungsfeld von Eindeutigkeit und Ambiguität. Prof. Dr. Ulrich Körtner (Wien) plädierte in seinem Beitrag dafür, in Bezug auf ethische Fragestellungen grundlegende Ambivalenzen – die Strittigkeit des Gegebenen und das Verborgene des Guten – anzuerkennen. Aufgabe einer evangelischen Ethik sei es insofern, einen Beitrag zu einem gelingenden Umgang mit diesen Ambivalenzen zu leisten. Der positionelle Umgang mit einer vorfindlichen ambivalenten Wirklichkeit stand im Mittelpunkt von Prof. Dr. Reiner Anselms (München) Vortrag. »Selbstvertrauen, Selbstzurückhaltung und Selbstkritik« können im Sinne einer Ambivalenzbewältigung der Beitrag öffentlicher Theologie zu einem Pluralismusmanagement in der Moderne sein.

Der zweite Block zur »Religionstheorie« mit Vorträgen von Dr. Katharina Wörn (Jena), Dr. Mirjam Sauer (Jena) und Prof. Dr. Georg Pfleiderer (Basel) stellte drei große theologische Entwürfe und ihre Haltung zu Ambiguität bzw. Eindeutigkeit ins Zentrum. Interessanterweise charakterisieren alle drei diskutierten Theologen, Tillich, Barth und Schleiermacher, Religion als ein zutiefst ambiges Phänomen, ziehen daraus allerdings unterschiedliche Konsequenzen: Barth weist die Religion aufgrund ihres Schwebecharakters zurück, Tillich übernimmt zwischen den beiden anderen Positionen eine Scharnierfunktion mit der Unterscheidung von verschiedenen Ambiguitäts- und Eindeutigkeitsformen im religiösen Erleben, Schleiermacher konzipiert die Wirklichkeit als endlichen mehrdeutigen Ausdruck einer momenthaften unendlich gedachten Einheit.

Im öffentlichen Abendvortrag am zweiten Tagungstag vertrat Sarah Vecera (Wuppertal) die These, dass die Kirche ihre ursprüngliche Vielfalt verloren habe. Rassismus als historische Vereindeutigungsstrategie habe demgegenüber dazu beigetragen, dass Weiß-Sein zur Norm geworden sei. Anhand unterschiedlicher Veröffentlichungen aus den Kirchen zeigte sie auf, wie diese Normierung sich etwa in Jesus-Darstellungen zeige. Aufgabe eines rassismuskritischen globalen Lernens sei deswegen die Rückgewinnung der Vielfalt in allen Bereichen kirchlichen Handelns und theologischen Arbeitens.

Der dritte Block zum »Kulturellen Ausdruck der Religion« begann mit einem Vortrag von Prof. Dr. Hartmut Rosa (Jena), der Religion als ein Resonanzphänomen in den Blick nahm. In Bezug auf die Fragestellung der Tagung hob er insbesondere das Aushalten von Ambiguität im Sinne von Unverfügbarkeit als Voraussetzung für Resonanz hervor. Die Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Christiane Wiesenfeldt (Heidelberg) präsentierte das Phänomen der ›Rave Masses‹ als ein Beispiel von Ambiguität zwischen religiösem Ritual, Tanzkultur und Kirchenkritik. Die Mehrdeutigkeit dieser ›Rave Masses‹ changiere hierbei zwischen der Wiedererkennbarkeit liturgischer Muster und der spielerischen Öffnung ebendieser. Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Angelika Zirker (Tübingen) rundete mit einer differenzierten Analyse von Charles Dickens’ Roman »Town and Todger’s« den dritten Block mit einem Beitrag zum Verhältnis von moralischer Eindeutigkeit und ästhetischer Ambiguität ab. Eine wichtige Bedeutung kam hierbei der Ironie als stilistischem Mittel zu.

Die Ergebnisse der Tagung werden in einem Tagungsband zusammengefasst und voraussichtlich im Frühjahr 2023 veröffentlicht.

Programm der Tagung:

7. April 2022
Religiöse Identität zwischen Eindeutigkeit und Ambiguität I
Moderation: Dr. Lisanne Teuchert, Bochum

15:00–15:15 Begrüßung
Dr. Mirjam Sauer und Dr. Katharina Wörn

15:15–16:00 Religiöse Identität und religiöse Indifferenz
Prof. Dr. Julia Knop, Erfurt

16:00–16:45 Konfessionelle Differenzen im Umgang mit Ambiguität
Prof. Dr. Miriam Rose, Jena

17:15–18:00 Einheit in der Vielfalt. Eine ökumenische Perspektive auf die Kirche
Dr. Mario Fischer, Wien


8. April 2022
Religiöse Identität zwischen Eindeutigkeit und Ambiguität II
Moderation: Dr. Kerstin Krauß, Jena

09:30–10:15 Diasporaidentität zwischen Eindeutigkeit und Ambiguität
Prof. Dr. Daniele Garrone, Rom

10:45–11:30 Diesseits von Gut und Böse. Eindeutigkeit und Ambiguität in der Ethik
Prof. Dr. Ulrich Körtner, Wien

11:30–12:15 Selbstvertrauen, Selbstzurücknahme, Selbstkritik. Der Beitrag öffentlicher Theologie zum Pluralismusmanagement
Prof. Dr. Rainer Anselm, München

Religionstheorie zwischen Eindeutigkeit und Ambiguität
Moderation: Dr. Lisanne Teuchert, Bochum

15:00–15:45 Ungefährliche Eindeutigkeit. Zum Verhältnis von Ambiguität, Moderne und Religion bei Paul Tillich
Dr. Katharina Wörn, Jena

15:45–16:30 Gottesdämmerung. Ambiguität im Licht der Offenbarung bei Karl Barth
Prof. Dr. Georg Pfleiderer, Basel

17:00–17:45 »Ambivalenzfähiges Vertrauen«. Mehrdeutigkeit und religiöse Bildung

20:00 Öffentlicher Abendvortrag: Kirche als Institution der Eindeutigkeit oder Vielfalt. Eine rassismuskritische Perspektive
Sarah Vecera, Wuppertal


9. April 2022
Kultureller Ausdruck von Religion zwischen Eindeutigkeit und Ambiguität
Moderation: Dr. Florian Durner, München

09:00–09:45 In Beziehung mit dem Umgreifenden? Religion als Resonanzsphäre
Prof. Dr. Hartmut Rosa, Jena

09:45–10:30 »The Mass reborn for a new millennium«? Die Rave Masses zwischen religiösem Ritual, Tanzkultur und Kirchenkritik
Prof. Dr. Christiane Wiesenfeldt, Heidelberg

11:00–11:45 Moralische Eindeutigkeit und ästhetische Ambiguität. Charles Dickens und die Religion
Prof. Dr. Angelika Zirker, Tübingen

11:45 Tagungsbeobachtungen/Schlussdiskussion
Dr. Mirjam Sauer und Dr. Katharina Wörn