26.11.2015

Tagungsbericht zum Nachwuchsworkshop der DFG-Tagung ›Transnationale Dimensionen religiöser Bildung in der Moderne‹ (29.–30. September 2015)

Vom 29. bis 30. September 2015 fand an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ein Nachwuchsworkshop zur internationalen DFG-Tagung ›Transnationale Dimensionen religiöser Bildung in der Moderne‹ (›Transnationalizing the History of Religious Education in the 19th and 20th Century‹) statt. Ermöglicht wurde der Nachwuchsworkshop durch die großzügige finanzielle Unterstützung der Vereinigung der Freunde und Förderer (VFF) der Goethe-Universität und durch die Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis für historische Religionspädagogik (AkhRP). David Käbisch (Universität Frankfurt am Main) und Michael Wermke (Universität Jena) – beide Mitglieder des Sprecherrates dieses informellen Arbeitskreises – eröffneten den Workshop und stellten die wissenschaftlichen Schwerpunktsetzungen des Arbeitskreises vor: Diese liegen in der historischen Erforschung religionspädagogisch relevanter Fragestellungen mit dem Fokus auf dem ausgehenden 19. sowie dem gesamten 20. Jahrhundert, in der Vernetzung von Forscherinnen und Forschern, in der Ausrichtung von Mitgliederversammlungen und Tagungen sowie in der Publikation von Tagungsbänden.
Im Anschluss an die Einführung stellte Monika Jakobs (Universität Luzern) in ihrem einführenden Referat die Besonderheiten des Schweizerischen Bildungssystems vor, indem sie einen historischen Überblick von ca. 1750 bis 1900 bot. So gab es ab Mitte des 18. Jahrhunderts in der Schweiz reformpädagogische Bemühungen, die sich u. a. auf den Pietismus, die Philanthropie und die Aufklärung beriefen und zu entsprechenden Schulversuchen und der Errichtung eigener Lehrerbildungsstätten führten (so z. B. die Normalschulbewegung von P. Nivard Krauer). Während der Zeit der Helvetik (1789–1803) wurde zum ersten Mal eine umfassende Bildung für alle Bevölkerungsschichten gefordert. Gleichzeitig wurden Maßnahmen in Betracht gezogen, die zu einer zunehmenden Professionalisierung des Lehrberufs führen sollten. Auch wenn diese Bemühungen auf Ablehnung stießen, wurden diese Ideen dennoch weiterverfolgt. Mit Blick auf religionspädagogische Fragestellungen, insbesondere um die gegenwärtige schweizerische Situation zu verstehen, ist die Zeit des Kulturkampfs bedeutungsvoll, da zu dieser Zeit auch der Streit um die Schulaufsicht ausbrach. So wurde z. B. in Luzern im Gefolge des Kulturkampfes ein Erziehungsgesetz verabschiedet (1879), in dem der Religionsunterricht nicht länger zu den obligatorischen Fächern gehörte. An der Praxis des Religionsunterrichts, dieser wurde nun von den Kirchen finanziert, gab es jedoch keine großen Veränderungen, da weiterhin viele Schülerinnen und Schüler an ihm teilnahmen und er zum festen Bestandteil des Schullebens gehörte.
Das Dissertationsprojekt von Stefan Müller (Universität Zürich) ist Teil eines vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekts, in dem Lehrpläne der deutschsprachigen Schweiz seit 1830 analysiert werden, um den Wandel von Inhalten und Konstruktionsprinzipien schulischen Wissens zu rekonstruieren. Müller bearbeitet in seinem Projekt den Bereich der religiösen Bildung. Dabei geht er der Frage nach, welche Inhalte religiöser Bildung an Volksschulen vermittelt werden sollten und wie sich diese im Lauf der Zeit wandelten. Gleichzeitig untersucht er, welche Akteurinnen und Akteure bei der Erstellung bzw. Revidierung von Lehrplänen eine maßgebliche Rolle spielten und wie sich die Konstellation der Akteurinnen und Akteure über die Jahre hin veränderte. Für diese Fragestellungen nimmt er drei Kantone der deutschsprachigen Schweiz und ausgewählte Zeiträume ab 1830 näher unter die Lupe. Außerdem geht das Projekt der Arbeitshypothese nach, dass die Inhalte religiöser Bildung nicht gänzlich aus dem schulischen Bereich verschwunden seien, sondern sich in andere Fächer verlagerten. Durch die Bearbeitung dieser Arbeitshypothese vermag das Projekt einen wesentlichen Beitrag zu einer differenzierten Betrachtung des sogenannten bekenntnisfreien und säkularisierten Schulwesens in der Schweiz zu leisten.
Durch die Migration von Gastarbeitern ab Ende der 1960er und den Zusammenbruch der Sowjetunion wuchs die armenische Bevölkerung in Deutschland sukzessive an. Mit ca. 40.000 Personen stellt die armenische Bevölkerung in Deutschland eine vergleichsweise große Diasporagemeinde dar. Da das Identitätsgefühl dieser Diasporagemeinde wesentlich durch die Zugehörigkeit zur armenisch-apostolischen Kirche geprägt ist, spielt Religion auch in Familien als erste religiöse Sozialisationsinstanz eine große Rolle. Für Sheila Baris (Universität Frankfurt) sei aufgrund der langjährigen Diasporasituation und der gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse von einem religiösen Wandel auszugehen, der wohl bei jungen Menschen mit armenischen Wurzeln, die mittlerweile der zweiten und dritten Generation angehören, markant festzustellen sei. Baris widmet sich in ihrem Dissertationsvorhaben diesem religiösen Wandel und plant, mithilfe biographischer Familieninterviews Einblicke in die religiöse Erziehung und Bildung armenischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu erhalten.
Das Forschungsprojekt »Heimat und Modernisierung. Bewältigungsstrategien am Beispiel ausgewählter Thüringer evangelischer Gemeindeblätter und des Thüringer Sonntagsblattes ›Glaube und Heimat‹ von ca. 1900 bzw. 1924 bis 1941« von Sylvia E. Kleeberg (Universität Jena) wurde in Vertretung von Gregor Reimann (Universität Jena) vorgestellt. In diesem beschäftigt sich die Jenaer Forschergruppe um Michael Wermke mit der Frage, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Akteure der evangelischen Kirche in Thüringen mit den zunehmenden gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, die eine theologische und seelsorgliche Herausforderung darstellten, umgingen. Für ihre Untersuchung zieht sie exemplarische Gemeinde- und Sonntagsblätter der evangelischen Parochialpublizistik Thüringens aus dieser Zeit heran und analysiert, wie in diesen der seit dem 19. Jahrhundert insgesamt populäre Heimatbegriff verwendet wurde. Insgesamt wird Kleebergs Studie von der Frage geleitet, inwiefern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Heranziehung eines spezifischen Heimatbegriffs als Bewältigungsstrategie der evangelischen Kirche in Thüringen angesichts der Modernisierungsprozesse gedeutet werden kann.
Das Habilitationsprojekt von Philipp Klutz (Katholische Privat-Universität Linz) nimmt die jüngere Wissenschaftsgeschichte der Religionspädagogik in den Blick, um einen Beitrag zur Selbstvergewisserung dieser jungen theologischen Disziplin zu leisten. Dabei untersucht er die Entwicklung ihrer Wissenschaftsdiskurse unter einer diachronen, länder- und sprachraumvergleichenden Perspektive. Während historische Studien primär hermeneutisch analysierend und interpretierend vorgehen, ist Klutz’ Projekt sprachempirisch angelegt. Mithilfe der modernen diachronen korpusbasierten Diskursanalyse untersucht er die Schlüsselbegriffe der Religionspädagogik in Österreich, Deutschland und Großbritannien in einem 30-jährigen Horizont (1975–2004), wobei einschlägige wissenschaftliche Zeitschriften/Journals das Datenmaterial bilden. Die Studie arbeitet mithilfe eines korpusbasierten quantitativ-qualitativen Modells. Als induktiv angelegte Studie deckt sie in den religionspädagogischen Wissenschaftsdiskursen zunächst Schlüsselwörter auf (quantitativer Zugang) und generiert anschließend anhand des kontextualistisch fundierten korpustheoretischen Ansatzes nach Michaela A. Mahlberg Hypothesen, die nach und nach verfeinert und interpretiert werden (qualitativer Zugang), um so die Entwicklung religionspädagogischer Fachdiskurse zu rekonstruieren und sie miteinander zu vergleichen.
Andreas Oberdorf (Universität Münster) beschäftigt sich in seiner Promotionsschrift mit dem Leben und Wirken des Demetrius Augustinus von Gallitzin (1770–1840), der im Kontext der katholisch-aufgeklärten Reformpolitik und Pädagogik des ausgehenden 18. Jahrhunderts aufwuchs und erzogen wurde und später als Priester und Missionar in Pennsylvania wirkte. Anhand der Person Gallitzins geht Oberdorf folgenden Fragen nach: Inwieweit können die reformpolitischen Bemühungen und Maßnahmen in den katholischen Staaten des deutschen Reiches zu dieser Zeit als ›Katholische Aufklärung‹ bezeichnet werden? Wurde das katholische Bildungswesen in Pennsylvania durch ähnliche Reformmaßnahmen und Diskurse geprägt? Mit diesen Fragen ergründet Oberdorfs Studie zum einen Ähnlichkeiten und Unterschiede im katholischen Bildungswesen zwischen Münster und Pennsylvania, zum anderen die Bedingungen für transatlantische Transferprozesse. Die bisherigen Analysen des Untersuchungsmaterials (u. a. Briefe und Abhandlungen Gallitzins) veranschaulichen, dass Gallitzin bemüht war, Konzepte und Medien religiöser Erziehung und Bildung aus seiner früheren Heimat für seinen Wirkungsbereich in Pennsylvania zu adaptieren, womit zumindest der einseitige Transfer von Europa nach Amerika nachgewiesen werden kann.
Ebenso widmet sich Kerstin Müller (Universität Marburg) in ihrem Dissertationsprojekt der religiösen Bildung in den USA. Als komparativ-religionspädagogische Studie untersucht sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der deutschen evangelischen Religionspädagogik und ihrer US-amerikanischen Referenzdisziplin Christian Education in der Presbyterian Church USA (PC USA). Müller zeichnet in ihrer Studie einerseits die historische Entwicklung der religiösen Bildung in den USA im Allgemeinen und der Christan Education in der PC USA im Speziellen nach, wobei sie sich an sogenannten dominierenden Vorstellungen orientiert. Andererseits eröffnet sie auf Basis von selbst durchgeführten Interviews mit Pfarrern, Lehrern und Studierenden Einblicke in das gegenwärtige Verständnis von Christian Education in dieser Kirche. Mit der Untersuchung der Christian Education in der PC USA verfolgt Müller das Anliegen, die deutsche evangelische Religionspädagogik in Theorie und Praxis zur Selbstreflexion anzuregen und Impulse für ihre Weiterentwicklung zu generieren.
Im Anschluss an den Nachwuchsworkshop fand unter der Moderation von Michael Wermke die diesjährige Mitgliederversammlung des Arbeitskreises für historische Religionspädagogik (AkhRP) statt. In dieser wurden die Mitglieder des bestehenden Sprecherrates in ihrer Funktion bestätigt sowie die anwesenden Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zur Mitarbeit in diesem Arbeitskreis ermutigt. In weiterer Folge fand die Besprechung des Tagungsbandes mit dem Arbeitstitel »Bildungsgeschichte Europas – religionspädagogisch betrachtet« (hrsg. von David Käbisch / Michael Wermke) statt. In diesem sollen die Vorträge der letzten sowie der diesjährigen Jahrestagung publiziert werden, wobei gleichzeitig ein Call for Papers ausgeschickt wird, um weiteren interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit zu bieten, sich an diesem Buchprojekt zu beteiligen. Der Arbeitskreis wird im April 2016 zu einer Arbeitstagung laden, zu der die Autorinnen und Autoren über ihre bereits eingereichten Beiträge beraten und Rückmeldungen zu ihren Arbeiten erhalten sollen. Ort und Zeit dieser Tagung werden zeitnah u.a. auf der Homepage des Arbeitskreises bekannt gegeben: www.theologie.uni-jena.de/AK_hist_RP.html


Konferenzübersicht:
Michael Wermke (Universität Jena) / David Käbisch (Universität Frankfurt): Begrüßung und Einführung

Monika Jakobs (Universität Luzern): »Schweizerische Besonderheiten« – Staat, Bildung, Religion in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

Stefan Müller (Universität Zürich): Wandel religiöser Bildung in den Volksschulen der deutschsprachigen Schweiz seit 1830

Sheila Baris (Universität Frankfurt): Religiöse Erziehung und Bildung bei armenischen Migranten in Deutschland

Sylvia E. Kleeberg (Universität Jena) / Gregor Reimann (Universität Jena): Heimat und Modernisierung. Bewältigungsstrategien am Beispiel ausgewählter Thüringer evangelischer Gemeindeblätter und des Thüringer Sonntagblattes ›Glaube und Heimat‹ von ca. 1900 bzw. 1924 bis 1941

Philipp Klutz (Katholische Privat-Universität Linz): Schlüsselbegriffe der Religionspädagogik. Ein exemplarischer Blick auf die religionspädagogischen Diskurse in Österreich, Deutschland und Großbritannien von 1975–2004

Andreas Oberdorf (Universität Münster): At the Frontiers of Faith. Das Leben und Wirken des Demetrius Augustinus von Gallitzin (1770–1840), eines aufgeklärten katholischen Bildungsreformers in Münster und Pennsylvania

Kerstin Müller (Universität Marburg): Christian Education in den USA – eine komparativ religionspädagogische Studie

Michael Wermke (Universität Jena; Moderation): Mitgliederversammlung des Arbeitskreises für historische Religionspädagogik


Verfasser des Berichtes: Philipp Klutz, Institut für Katechetik, Religionspädagogik und Pädagogik, Katholische Privat-Universität Linz; p.klutz@ku-linz.at