Buch des Monats: Dezember 2024
Greenblatt, Stephen Aus dem Englischen von Klaus Binder.
Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit.
München: Siedler-Verlag 2018. 448 S. Geb. 28,00 EUR. ISBN 9783827500458.
Stephen Greenblatt, amerikanischer Literatur- und Kulturwissenschaftler, führender Kopf des »New Historicism« und Pulitzerpreisträger von 2012, bearbeitet in diesem Buch ein Lebensthema. Seit Kindertagen vertraut mit den Lesungen in der Synagoge, emanzipiert er sich schon früh von der pädagogischen Instrumentalisierung des Bibeltextes. Darüber berichtet ein Prolog auf nachdenkliche und berührende Weise. Für den Literaturwissenschaftler aber ist der Stoff, im Untertitel als »mächtigster Mythos der Menschheit« bezeichnet, wie geschaffen für den methodischen Ansatz, Texte in ihrem kulturellen und historischen Umfeld zu interpretieren.
Worin liegt der unwiderstehliche Reiz, der von dieser Geschichte ausgeht? Biologen präsentieren in ihren Taxonomien sogenannte Holotypen, in denen die jeweilige Art durch ein typisches Individuum repräsentiert wird. Steht hinter der Suche nach den »Protoplasten« der Wunsch, auch den Menschen auf vergleichbare Weise erfassen zu können? Die Erzählung setzt anders an: »Irgendwann in einer unendlich weit entfernten Vergangenheit war es ein Atem, der Adam zum Leben erweckte, der Atem eines Erzählers.« (32)
In die Tiefen dieser Vergangenheit taucht Greenblatt mit den folgenden zwei Kapiteln ein. »An den Wassern zu Babel« lernen die Israeliten die großen Erzählungen des Alten Orients kennen, die den Ursprung der Welt und die Anfänge der Menschheit in globaler Perspektive inszenieren. Mit ihnen setzen sie sich auseinander, verinnerlichen ihren Plot und entwerfen ihre eigene Gegenerzählung. Von besonderem Einfluss ist das Gilgameschepos, dem Greenblatt eine feinfühlige Interpretation widmet. »War der hebräische Erzähler darauf aus, tief verwurzelte mesopotamische Glaubensinhalte zu erschüttern, dann war er auf grandiose Weise erfolgreich. Er hat eine alte Ursprungsgeschichte auf den Kopf gestellt. Was im Gilgamesch-Epos ein Triumph war, wird in der Genesiserzählung zur Tragödie.« (80)
Das nächste Kapitel geht schon zur Nachgeschichte über. Frühjüdische und frühchristliche Texte nehmen sich gleichermaßen der biblischen Erzählung an und unternehmen es, die zahlreichen Leerstellen zu füllen. Hier sind jene Diegesen zu nennen, die unter dem Titel »Leben Adams und Evas« kursieren, sowie die Apokalypse Sedrachs, die Allegoresen eines Philo oder Origenes sowie die Texte aus Nag Hammadi. Sie alle bauen die ursprüngliche Skizze phantasievoll aus und entfalten ihr allegorisches Potential.
Eine Art exegetischen »Sündenfall« erlebt die Geschichte der Ureltern in der Auslegung Augustins, der Greenblatt in zwei umfangreichen Kapiteln nachgeht. Die biographische Schlüsselszene entnimmt er den »Bekenntnissen« des späteren Bischofs von Hippo: Bei einem gemeinsamen Besuch in den Thermen von Tagaste entdeckt der Vater eines Tages die erwachende Sexualität seines Sohnes, die fortan zu einem vielschichtigen Thema auf dem Karriereweg des begabten Jünglings wird. Zwischen den Sorgen einer frommen Mutter, dem frühen Tod des Vaters und den Lehren der Manichäer über den Ursprung des Bösen, zwischen ersten beruflichen Erfolgen und dem immerhin 15-jährigen Leben an der Seite einer Frau, die ihn mit dem gemeinsamen Sohn auf allen Wegen begleitet, nähert sich Augustinus allmählich der Kirche an. Dabei treibt ihn die Frage nach der »Konkubiszenz« um und führt ihn immer wieder auf die Erzählung vom Paradies zurück, die er nun im Literalsinn zu deuten beginnt. Er entdeckt den »Adam in sich« und entwickelt eine Theologie der »Erbsünde«, die – an den Vorgang des Zeugungsaktes gebunden – zum Verhängnis des Menschen wird. »Die Ur- oder Erbsünde ist das moralische Äquivalent einer Krankheit, eines genetischen Defekts, den wir von unseren entferntesten Verwandten übernommen haben.« (132) In seiner Schrift »De Genesi ad litteram« entworfen, im Pelagianischen Streit ausgearbeitet, und in seinem »Gottesstaat« systematisch entfaltet, wird diese wörtliche Auslegung der Geschichte von Adams Fall schließlich zum Kernelement einer Sündenlehre, die bis weit in die Neuzeit hinein ihre Wirksamkeit entfaltet.
Fortan gerät vor allem Eva unter Beschuss. Indem Augustinus die Erzählung über die Ureltern zur zentralen Episode des menschlichen Dramas machte, »öffnete er die Schleusentore für einen Strom der Misogynie« (146). Das Potpourri abwertender Äußerungen, das Greenblatt anklingen lässt, ist beachtlich. Es beginnt schon früh bei Tertullian und setzt sich noch im »Hexenhammer« des 15. Jh.s fort. Nur wenige Stimmen erheben sich, die Evas Partei ergreifen und ihre Rolle in der Paradieserzählung zu verteidigen suchen. Neben den Texten läuft seit der frühen Malerei in den Katakomben auch eine stetig anwachsende ikonographische Tradition einher. Dürers Kupferstichblatt zum »Sündenfall« (1504) führt exemplarisch die nackten Körper als Ausdruck des idealen Menschen vor Augen.
Den Höhepunkt der Geschichte steuert Greenblatt mit John Miltons »Paradise Lost« (1667) an. Hier bewegt er sich zugleich auf dem vertrauten Gelände seines bevorzugten Forschungsfeldes. Er nimmt einen langen Anlauf und malt seiner Leserschaft die politisch-religiösen Kämpfe im England des 17. Jh.s vor Augen, in die er nun auch die Lebensgeschichte des jungen Milton einzeichnet. Der eigenwillige und unangepasste Dichter stößt schon in jungen Jahren auf Themen, die in der biblischen Erzählung vom Paradies eine Bezugsgröße finden – Themen wie die ursprüngliche Gleichheit und Freiheit aller Menschen oder die komplizierte Beziehung der Geschlechter. Aufgestört durch eine desaströse Ehegeschichte, geprägt von puritanischer Frömmigkeit und politisch aktiv unter der Regierung Oliver Cromwells macht er in streitbaren Traktaten über das Recht auf Ehescheidung oder über den Lehensbesitz der Obrigkeit bereits umfangreichen Gebrauch von Gen 1–3. Mehr und mehr verfällt er diesem Stoff und entdeckt in ihm schließlich, schon erblindet, das Thema jenes großen Poems, das er ein Leben lang gesucht hatte. Nach Cromwells Tod inzwischen zum Staatsfeind geworden, dessen Schriften man verbrennt, zieht er sich aus der Öffentlichkeit zurück und schwingt sich zu der einen großen Dichtung auf, mit der er in Erinnerung bleiben sollte und die Greenblatt einfühlsam erschließt: »Die Genesiserzählung war ihm der Schlüssel für das Verständnis so gut wie aller Fragen in Anthropologie, Psychologie, Ethik, Politik und Glauben. Und wie Augustinus, den diese Erzählung ebenso wenig losließ, brachte auch er sein ganzes Leben in diese Erzählung ein.« (235) Milton stellt die biblische Geschichte an die Seite der großen antiken Epen und dichtet den Ureltern eine komplexe Ehebeziehung an, für die es bislang noch kaum literarische Vorbilder gibt. Augustins Verständnis fortführend macht er Adam und Eva zu realen Figuren, deren Fragen und Probleme auch diejenigen seiner Zeit sind. »Sie werden wirklich« überschreibt Greenblatt dieses dritte Milton-Kapitel. Am Ende des Poems verlassen Adam und Eva den Raum der Erzählung und schreiten gemeinsam einer neuen, verlockenden Wirklichkeit entgegen.
Was Milton in poetischer Vollendung entwirft, wird im Umfeld von Aufklärung und Kolonialgeschichte alltagspraktisch diskutiert. Sind die Menschen in der »neuen Welt«, die angesichts ihrer Nacktheit offenbar gar keine Scham empfinden, überhaupt in die Genealogie von Adam und Eva einzureihen? Isaac La Peyrère schließt angesichts dieser verwirrenden Überlegung auf eine »prä-adamitische Menschheit« (1655) – ein Gedanke von ungeahnter Brisanz. Im aufkommenden Sklavenhandel gerät gerade die Frage nach einem gemeinsamen Ursprung und damit nach der Gleichheit aller Menschen in den Strudel rassistischer Debatten. Peyrère, der andere Interessen verfolgt und für Toleranz und Erlösung der Völker plädiert, ordnet Adam und Eva in eine jüdische Sondergeschichte ein, aus der er messianische Hoffnungen ableitet. Damit zieht er sich wiederum den Zorn der Kirche zu und muss am Ende in Rom seinen Thesen abschwören. Das realistische Verständnis der Geschichte scheint ad absurdum geführt. Sie »altert« und öffnet dem Skeptizismus Tor und Tür: »Es war gefährlich, das Leben so effektvoll heraufzubeschwören.« (296) Pierre Bayles (1697) oder François Voltaire (1764) schlagen in ihren »Dictionnaires« den Ton der Ironie an. Unter den Prämissen der Aufklärung konnte man nicht länger an einer wörtlichen Interpretation festhalten; dieselbe hatte sich »gegen die Erzählung selbst gewandt und ließ sie von innen her zerfallen.« (301) Irgendwann gelangt diese Entwicklung dann bei Mark Twain an, der mit seinen »Tagebüchern von Adam und Eva« (1892) aus dem Stoff eine launige »Komödie der Geschlechterbeziehungen« (306) macht. Die Zeit des Literalsinns jedenfalls ist endgültig abgelaufen.
Mit »Darwins Zweifel« kommt die Geschichte an ihr vorläufiges Ende: »Was wir – nach Darwin – von unseren uralten Vorfahren empfangen haben, sind keine Strafen, sondern lebendige Spuren erfolgreicher Anpassungen unserer Art an die sie umgebende Welt, Spuren von Prozessen, die sich vor Zehntausenden von Jahren vollzogen haben.« (312) Darwin blieb vorsichtig. Er ahnte schon, dass die Behauptung einer Abstammung des Menschen von affenähnlichen Vorfahren als schwere Kränkung empfunden werden musste. Zudem fehlte seiner These ein eingängiges »Narrativ«. Damit aber findet die biblische Erzählung wieder ins Spiel, nachdem sie schon zahlreiche Wandlungen durchlaufen hat: »von einer archaischen Spekulation zum Glaubenssatz, vom Dogma zur buchstäblichen Wahrheit, von der buchstäblichen Wahrheit zum Realen, vom Realen zum Sterblichen, vom Sterblichen zum Unwahren« – und schließlich zur literarischen Fiktion (325). Adam und Eva bringen die großen Lebensthemen zur Sprache und »halten den Traum offen«, einmal zurückkehren zu können in eine Welt, die verloren ging. »Sie besitzen eine ganz eigene, intensive, imaginierte Realität – das Leben der Literatur.« (326)
In diesen Wandlungen der Geschichte spiegelt Greenblatt auch seine eigenen Entdeckungswege, von der Ernüchterung des Kindes in der Synagoge über die Lesefrüchte und methodischen Aufbrüche des Erwachsenen bis hin zum Résumé eines Lebenswerkes. Im Epilog wechselt er das Fach und durchstreift nun ganz unmittelbar »die Wälder von Eden«. Während eines Aufenthaltes im Kibale Nationalpark (Uganda) nimmt er an einem Schimpansen-Forschungsprojekt teil und spürt dem Traum einer »paradiesischen« Existenz dort nach, wo Darwin den Ursprung der Hominiden vermutete. Ihr Aufstieg verdankte sich einem Ensemble neuer Fähigkeiten, das zugleich ihren »Fall« verursachte – den Verlust jenes ursprünglich »geruhsamen Lebens in den Baumwipfeln«. Welche Rolle mag dabei das Wissen um Gut und Böse gespielt haben? Der Schluss kann eine augenzwinkernde Anspielung nicht ganz unterdrücken: Greenblatt beobachtet ein Schimpansen-Paar, das sich gerade der Bewachung durch das Alphamännchen entzogen hat, und resümiert: »Die Welt lag vor ihnen.«
Das Buch ist eine großzügige Einladung, der Geschichte von Adam und Eva weiter nachzudenken. Dafür bietet ein Anhang ausgewählte Anregungen. Aus dem großen »Archiv« an Auslegungen stellt er einige Beispiele zusammen, vom jüdischen Midrasch über die Kirchenväter bis hin zu den Reformatoren. Unter den Endnoten finden sich viele verborgene Perlen, die es aufzusuchen lohnt. Die Bibliographie bietet für Lektüreinteressen gerade von Seiten der Theologie viel Neues, Entlegenes und Anregendes. 29 gediegene Abbildungen unterstützen nicht nur das Lesevergnügen, sondern flankieren auch das Hauptanliegen des Buches: Sie visualisieren die zahlreichen Wandlungen, die der biblische Text auf der Ebene seiner literarischen Rezeption erfahren hat.
Greenblatt erzählt die Geschichte zur Geschichte. Die aber wäre noch mit vielen weiteren Kapiteln zu füllen oder fortzusetzen. In ihrer Gesamtheit ist die Geschichte von Adam und Eva in der Tat ein Menschheitsmythos, der auch in unserer Zeit moderner Evolutionsbiologie nicht nur hilfreich, sondern geradezu unverzichtbar bleibt.
Christfried Böttrich (Greifswald)