Buch des Monats: September 2024
Herbst, Michael, Jansson, Andreas C., Reißmann, David, u. Patrick Todjeras
Evangelisation. Theologische Grundlagen, Zugänge und Perspektiven.
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2024. 540 S. = Mission und Kontext, 3. Geb. EUR 39,00. ISBN 9783374075140.
Ein Kollektiv von vier Autoren, die sich aus mehrjähriger Forschungsarbeit am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald kennen, legt diesen gewichtigen Band vor. Das Institut ist inzwischen Vergangenheit, doch die Themen, die es bearbeitet hat, werden die Institution Kirche in Zukunft intensiver beschäftigen. Zum Beispiel muss die Frage beantwortet werden, wie Evangelisation mit volkskirchlicher Diskretion zusammengehen kann. Ebenso muss ein konstruktiver Umgang mit Konversion in der Gemeindepädagogik gefunden werden. Diese Themen sind nicht nur praktisch-theologisch relevant. Entscheidend ist, ob die Theologie insgesamt willens und fähig ist, die dafür nötige Grundlagenarbeit zu leisten und die Debatten wissenschaftlich zu begleiten. Ist sie dazu bereit? Die Frage ist berechtigt. Jedenfalls hat Evangelisation im akademischen Diskurs der deutschsprachigen Theologie bislang nur wenig Beachtung gefunden. Herbst e. a. erkennen diese Leerstelle als Signal für einen Theoriebedarf und wollen einen Beitrag zur Debatte leisten bzw. eine transdisziplinäre Diskussion anstoßen. Vor allem spannen sie das Diskursfeld auf und weiten es. Der Aufbau des Bandes spiegelt das Ansinnen wider.
Im ersten Teil mit dem Titel »Zugänge« (21–123) präsentiert Davies Reißmann eine fundierte Begriffsgeschichte. Darauf folgt ein historischer Überblick von Andreas C. Jansson über die Rezeption der Evangelisation im deutschen Protestantismus seit dem 18. Jahrhundert und der internationalen Missionstheologie seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Die geschichtliche Einbettung der Diskursstränge bildet den Rahmen für die systematisch-theologischen Fragen der Evangelisation im Teil »Grundlagen« (127–395), Fragen, die Patrick Todjeras entfaltet und mit einer Vertiefung der Konversionsthematik verknüpft. Jansson bietet einen Überblick zur Rezeption der Evangelisationsthematik in den gegenwärtigen Missionswissenschaften und der Praktischen Theologie. Einen eigenen Schwerpunkt und in sich geschlossene Einheit bildet Herbsts Kapitel »Praktische Theologie der Evangelisation« (267–395) – ein Buch im Buch, in dem nach der evangelistischen Dimension in der Logik der praktisch-theologischen Subdisziplinen gefragt wird. Im dritten Teil »Perspektiven« (397–484) unternimmt Todjeras den Versuch, Evangelisation in digitaler Perspektive zu durchdenken. Schließlich greift Reißmann den Impuls aus seiner begriffsgeschichtlichen Studie auf und macht im Anschluss daran einen Vorschlag für (Re-)Kontextualisierungen des ungeklärten Evangelisationsbegriffs in gegenwärtigen Debatten.
Der Sinn der Gliederung, der hinter der Sortierung der Kapitel in den drei Teilen Zugänge, Grundlagen und Perspektiven steckt, hat sich dem Rezensenten nicht ganz erschlossen. In den »Zugängen« wird Grundlegendes und in den »Grundlagen« Zugänge geboten, unter »Perspektiven« kann alles Mögliche verstanden werden. Auch sind die Kapitel uneinheitlich in Konsistenz und Reichweite. Vielleicht ist der Rezensent einfach ein wenig schwer von Begriff und hat die Logik des Aufbaus nicht verstanden!? Entscheidend ist das nicht. Es nimmt den einzelnen Beiträgen jedenfalls nichts von ihrer Qualität. Sie sind profund, profiliert und gehen durchaus pointiert zur Sache. Den Anspruch, eine gute Grundlage für die weitere Diskussion zu liefern, erfüllen sie allemal: Herbsts kurze Darstellung einer evangelistisch sensiblen Praktischen Theologie besticht durch ihre besonnenen Positionierungen; Todjeras verknüpft seine systematisch-theologische Fundierung mit erfrischend klaren evangelischen Pointen und Janssons Verortungen im Feld geben einen guten Überblick, sind anregend und weiterführend.
Vielleicht lässt sich das gemeinsame Anliegen der Autoren und die Relevanz einer kritischen Evangelistik am besten mit einer ausführlicheren Besprechung von Reißmanns Begriffsgeschichte zum Auftakt und seinem Vorschlag einer Signifikation des Begriffs zum Schluss zeigen. Verleiht diese Ministudie doch dem Anliegen, eine profilierte und fundierte Grundlage für weitere Gespräche zu bieten, einen fundierten Rahmen. Reißmann setzt in seiner kritischen Zusammenstellung der Begriffsverwendung von der Antike bis in die Gegenwart mit der eingangs gemachten und im Band öfters wiederholten Beobachtung ein, dass Evangelisation in der deutschsprachigen Theologie (anders als in außereuropäischen Kontexten) nahezu keine Rolle spiele. Das liege u. a. auch daran, dass sich die Forschung bisher noch nicht über den Begriff verständigt und nicht auf einen Begriff geeinigt habe, aber auch daran, dass diejenigen, die meinen, sie wüssten, was darunter zu verstehen sei, auf den Begriff verzichten oder ihn ablehnen, weil sie den Inhalt für problematisch erachteten. Tatsächlich hat sich ein »allgemeines Alltagsverständnis des Begriffs etabliert«, ein Verständnis, das aber bisher »in begriffsgeschichtlichen und theologischen Untersuchungen zu wenig beachtet und kaum kritisch erforscht [wurde]« (21 f.). Reißmann fragt darum, »welches Verständnis, bzw. welche Verständnisse von Evangelisation sich heute ausgebildet haben und wie sie sich im heutigen Diskurs kontextualisieren lassen, mit welchen Begründungen der Evangelisationsbegriff heute verwendet oder abgelehnt wird und an welche Debatten er konzeptionell anschließt« (22). Das Unterfangen ist anspruchsvoll, weil es auf die Metaebene zielt und zugleich Tiefenbohrungen verlangt, um den theologischen und religionsphilosophischen, aber auch kirchenpolitischen Entwicklungen auf die Spur zu kommen, die den Diskurs in bestimmte Richtungen gesteuert und beeinflusst haben. Eben dieser hinter- und untergründige Einfluss bedarf einer aktuellen Überprüfung und Historisierung, »um die Grenzverläufe zwischen dem Evangelisationsdiskurs und anderen Debatten der Theologie offenzulegen« (ebd). Reißmann verspricht mit der Aufklärung dieser Grenzverläufe also ziemlich viel – und löst das Versprechen vollumfänglich ein!
Das von Michael Bergunder (Heidelberg) inspirierte Vorgehen orientiert sich methodisch an poststrukturalistischen Ansätzen und erweist sich beim Evangelisationsthema als äußerst fruchtbar. Der Logik der Destruktion folgend werden zunächst falsche Essentialisierungen entlarvt. Folgt man der Fährte der Namensgeschichte, so zeigt sich, dass ein Ansatz bei der Sache oder bei einem Ursprung, der vorweg bestimmt werden könnte, nicht möglich ist. Evangelisation bezeichnet etwas, das untrennbar mit dieser Benennung verbunden ist. Es handelt sich um einen Namen, der zitiert, wiederholt und in einen Kontext gesetzt wird. Dadurch entstehen in aktuellen Verwendungszusammenhängen neue Bedeutungen. »Wir fragen […], was ›Evangelisation‹ genannt wurde, welche Bedingungen und Gründe es dafür gab, wie diese Benennungen selbst dann den weiteren Evangelisationsdiskurs geprägt haben und welchen Einfluss dies auf das heutige Alltagsverständnis hat.« (27)
Ein erster Durchgang durch den biblischen Befund der Wortwurzeln von Evangelisation im Alten und Neuen Testament macht aufmerksam auf die Verwendung und die wirkungsgeschichtliche Bedeutung des griechischen Verbs euangelizomai bzw. die Übersetzung des hebräischen basar (gute Nachricht bringen, etwas Erfreuliches melden). Was Jesaja im Bild geprägt hat (Jes 40,9; 52,7; 61,1) und im Lukasevangelium (Lk 4,17–19) zitiert wird, ist grundlegend für das Verständnis des verbalen Aktes, der mit frohbotschaften übersetzt werden kann, aber in den meisten Übersetzungen mit Evangelium lehren, ansagen oder verkündigen wiedergegeben wird. »Genau damit ist«, so Reißmann, »nun eine aus begriffsgeschichtlicher Perspektive äußerst folgenreiche ›Weggabelung‹ in der Entwicklung des Wortes markiert, die bis in das heutige Allgemeinverständnis hineinwirkt: Statt das neutestamentliche Verb durch ein Verb der jeweiligen Übersetzungssprache wiederzugeben, wird es durch eine Kombination des Evangeliumsbegriffs mit unterschiedlichen Verben wiedergegeben […] in den Bibelübersetzungen [wird] so auch das Eigenständige des Wortes, vor allem sein verbaler Charakter als Sprech- und Sprachgeschehen und der Aspekt der Freude, der Teil der hebräischen Wurzel ist, begrifflich nahezu völlig verdeckt. Der Zustand der Freude ist […] nicht mehr direkt einsichtig.« (33)
Der Umstand, dass sich nie ein eigenständiges adäquates Verb für euangelizomai durchsetzen konnte, liefert eine erste, wenn auch keine hinreichende Erklärung dafür, warum den Begriff der Evangelisation bis heute eine Unklarheit begleitet; er verweist aber auch auf das Signifikationspotenzial, das sich mit diesem unübersetzbaren tertium comparationis erschließt (59). Weiter Gabelungen macht Reißmann in den englischen Bibelübersetzungen nach der Reformation aus, die zum ersten Mal zwischen Evangelism und Evangelization unterschieden haben – eine Differenzierung, die im Deutschen mit Evangelisierung und Evangelisation wiedergegeben werden kann. Für die weitere morphologische Entwicklung (und rasante Verbreitung) des Begriffs wurden die Missionsgesellschaften im 19. Jahrhundert zur treibenden Kraft. Was Reißmann quellenfundiert und trotz hermeneutischer Flughöhe schwindelfrei nachzeichnet, lässt sich so zusammenfassen: Während sich mit Evangelisierung unter Bezugnahme auf den Taufbefehl (Mt 28) die Vorstellung der Missionierung nicht-christlicher Nationen und Kulturen verbinden konnte, prägten die frei- und landeskirchliche Gemeinschaftsbewegungen im Übergang zum 20. Jahrhundert ein Verständnis von Evangelisation als Veranstaltung, die zu einer individuellen Glaubensentscheidung einlädt. Eine kritische Evangelistik zeigt auf, dass sich im einen wie im anderen Fall eine Verengung der Bedeutungsfülle von Evangelisieren anzeigt. Sie reflektiert funktionale und substanzielle Definitionen der Evangelisation kritisch, setzt jedoch ein Verständnis von Evangelisation voraus, das über diese Festlegungen hinausgeht. Reißmann macht in seiner Analyse der »Episteme« (Foucault) die Verflechtungen kenntlich, die auf den Einfluss der Missionsarbeit, die politische Neuordnung in Nationenstaaten, die theologische Neubewertung des kirchlichen Sendungsauftrags und die Neupositionierung der Evangelisation in Bezug auf den gleichzeitig aufkommenden Leitbegriff der Religion in der Theologie zurückzuführen sind. Mit Andreas Feldtkeller (Berlin) sieht er in der epistemischen Verflechtung ein Schlüsselkonzept der missionsgeschichtlichen Forschung. Doch er geht noch einen Schritt weiter als Feldtkeller, indem er im Schlusskapitel den Bogen von der Destruktion zur Rekonstruktion schlägt (431–483) und im Anschluss an die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen theologische Argumentationslinien in sechs Thesen diskutiert.
Sie kreisen um die Pointe, dass sich Evangelisation als unübersetzter und leerer Signifikant vom Verb frohbotschaften aufschlüsseln und das verfestigte Allgemeinverständnis aufbrechen lässt. Denn »funktionale und substanzielle Definitionen von Evangelisation sind gerade darum unzureichend, da sie die gegenseitige Abhängigkeit von Freude, Botschaft und partikularem Kontext nicht berücksichtigen« (434). Damit ist eine kritische Sicht der Festlegung der Evangelisation auf den Sendungsauftrag in Matthäus 28 und eine Akzentuierung der Sendungsoffenbarung in Jesaja 61 (bzw. Lk 4) gegeben – eine (Re-)Kontextualisierung, die mit einer Verschiebung von der Ontotheologie zur Onomatheologie verbunden wird. Die neue Verankerung des Evangelisationsdiskurses im Rahmen einer Namenslehre ermöglicht sowohl eine fundierte Kritik an Seinstheologien als auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem dominanten Religionsdiskurs. »Wo sich der Evangelisationsdiskurs dann als sprachlich, interkulturell, hermeneutisch, exegetisch, geschichtlich, praktisch-theologisch etc. ernstzunehmende Alternative erweist und als Differenz behauptet, kann er entgegen alten Frontstellungen der Theologie eigene Transformationsräume anbieten, die vitalisierend auf die theologischen und kirchlichen Veränderungsprozesse der Gegenwart wirken.« (435) Ausgesprochen spannend ist die Aufarbeitung der Frontstellung zwischen dem liberalen Protestantismus, der sich unter dem Leitbegriff der gelebten Religion der Programmatik einer Theologie als Religionshermeneutik verpflichtet weiß und der postliberalen Missio-Dei-Theologie. Reißmann zeigt, wo und inwiefern die beiden Diskurse konvergieren und wo sie divergieren (59; 464–471).
Summa summarum bietet dieses Buch auch den »Verächtern der Evangelisation« etwas – eine profunde Grundlage für theologische Debatten, die andernorts längst geführt werden. Wenn also der Klappentext in amerikanischer Manier verspricht, dass »dieses Grundlagenwerk zum Thema ›Evangelisation‹ […] im deutschsprachigen Raum Maßstäbe setzen [wird]« und Stefan Paas, Professor für Missiologie (Amsterdam, Utrecht) im Geleitwort nachdoppelt, es sei »möglicherweise die bisher gründlichste und umfassendste theologische Diskussion über Evangelisation« und werde »wahrscheinlich zu einem wichtigen Lehrbuch für Generationen von Theologen werden« (6), stimmt der Rezensent zu und schließt sich dem Wunsch von Sabrina Müller (Bonn) an, die im zweiten Geleitwort von einem »unverzichtbaren Werk« schreibt, »das in akademischen und kirchlichen Kreisen Beachtung finden sollte« (ebd.). Vielleicht ist es (nicht nur) ein frommer Wunsch?
Ralph Kunz (Zürich)