Book of the month: July/August 2022

Witte, Markus

Das Buch Hiob. Übersetzt und erklärt von Markus Witte.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. L + 698 S. mit 5 Abbildungen. = Das Alte Testament Deutsch – Neubearbeitungen, 13. Geb. EUR 120,00. ISBN 9783525516430.

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Das biblische Buch Hiob gehört zu den rätselhaftesten und faszinierendsten Texten der Weltliteratur. Sein Einfluss auf die antike wie die moderne Literatur und Kunst ist kaum zu überschätzen. Die in ihm verarbeiteten »Erfahrungen von Krankheit und Sterben, von individuellem, kollektivem und strukturellem Leid, von wirtschaftlichen Zusammenbrüchen und gesellschaftlichen Verwerfungen, von Isolation und ideologischer Konfrontation sind überzeitlicher Natur«, so das Vorwort des hier anzuzeigenden wissenschaftlichen Kommentars (VI). Gerade weil das so ist, empfiehlt sich eine genaue, sprachliche, historische, literatur- und motivgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Hiobbuch als sicherer Kompass für eine bewusste Lektüre. Der Berliner Alttestamentler Markus Witte hat einer solchen Lektüre des hebräischen Hiobbuchs über zwanzig Jahre Forschungszeit gewidmet. Als Ergebnis liegt nun in einem umfangreichen Band die aktuellste, auf dem neuesten Forschungsstand gearbeitete Kommentierung des Buches in deutscher Sprache vor. Sie ist von drei Grundprinzipien geleitet: a) Die historische Kritik im besten Sinn der exegetisch-theologischen Auslegungstradition europäischer Prägung. b) Die differenzierte Einordnung des Hiobbuchs in altorientalische und klassisch-antike Diskussionen der Stellung des Menschen in einem gottgewirkten Kosmos, dessen Versprechen von Gerechtigkeit in Frage steht. c) Die rezeptionshistorische Wahrnehmung des Hiobbuchs, die bereits mit interpretierenden Fortschreibungen beginnt. Der Kommentar bietet eine abgewogene und jederzeit verlässliche Wegweisung vor allem zum Verständnis der Textgrundlage. Witte präsentiert eine philologische Übersetzung mit knapper, präziser Begründung in Anmerkungen, die immer auch Ausblicke auf einschlägige Fachdiskussionen eröffnen. Im Zusammenspiel mit der konzis formulierten Einzelauslegung entsteht eine dichte Beschreibung des Hiobtextes und seiner Sinnmöglichkeiten, die neben der bevorzugten Interpretation auch alternative Deutungen des oft unaufhebbar mehrdeutigen Textes aufzeigt. Für Wittes Auslegung sind vor allem zwei durchgehend berücksichtigte Aspekte wesentlich: a) Er bezieht so konsequent wie kein neuerer Hiobkommentator die antike Textüberlieferung mit ein. Dabei wird vor allem den frühesten Zeugnissen (2./1. Jh. v.Chr.), dem aus den Höhlen vom Toten Meer überlieferten aramäischen Hiobtargum (11QTgHi) sowie der griechischen Übersetzung (Old Greek, LXX-Text), durchgehende Aufmerksamkeit zuteil. Insofern löst der Verfasser seinen Anspruch überzeugend ein, den Hiobtext als plurales, in seinen Versionen vielstimmiges Phänomen sichtbar werden zu lassen. b) Witte erreicht durch seinen rezeptionsbezogenen Zugang eine überzeugende Synthese der Darstellung entstehungsgeschichtlicher Prozesse im engeren Sinn, die zum sog. »Endtext« des hebräischen Hiobbuchs (masoretischer Text) geführt haben, wie der Rezeptionen, die sich an ihm orientierten.
Zu den genannten Punkten bietet die übersichtlich gegliederte Einleitung des Kommentars (1−74), der eine exzellente Forschungsbibliographie vorangestellt ist (XIV−L), eine konzentrierte Orientierung. Aus dieser Einleitung sind vor allem die Abschnitte 4 (zu Sprache und Text), 6 (zur Geisteswelt des Hiobbuchs), 7 (zu den altorientalischen und klassisch-antiken Paralleltexten) und 8 (zum im Kommentar vorausgesetzten Entstehungsmodell) hervorzuheben. Sie können gut auch ohne den Kommentarteil mit Gewinn gelesen werden.
Der Kommentierung liegt ein Entstehungsmodell zugrunde, das auf vielen Einzelstudien des Verfassers, auf in seinem Umfeld erarbeiteten Qualifikationsschriften und weiteren methodisch ähnlich ansetzenden Hiobarbeiten beruht (45−59). Es sei in aller Kürze zusammengefasst: Am Anfang des Buches stand der Stoff selbst, nicht wie oft angenommen als altes Volksbuch, sondern bereits als Problemerzählung. Diese kann man allerdings nur noch im Hintergrund ihrer perserzeitlichen literarischen Verarbeitung in Form einer ersten Hiobdichtung (überwiegend poetisch) und einer kleinen Hiobnovelle (über-wiegend in Prosa) vermuten. Die Dichtung in dialogischer Form (Hiob und seine Freunde) hätte einmal ohne die Novelle existiert und einen Erzählbogen von Hi 3 zu Hi 39 gespannt. Ihr Schluss habe die Existenz des Leidens in der Welt als rational undurchdringlich festgehalten (53). Die Novelle auf der an-deren Seite hatte nach Witte ihren Schwerpunkt im »Lobpreis Gottes, der Leben schenkt und Leben nimmt« (Hi 1,21), sie deutet das Leiden Hiobs als »Bewährungsprobe« (53). Mehrere sukzessive Redaktionen hätten diese bei-den literarischen Größen aufeinander bezogen und miteinander verzahnt, um der Einsicht Ausdruck zu geben, dass es auf die existentiellen Fragen nach dem Leiden der Unschuldigen und der Rechtfertigung Gottes niemals nur eine Antwort geben kann. Die Stärke des Kommentars liegt darin, dass diese (hypothetischen) Bearbeitungsschichten nicht isoliert betrachtet werden, sondern als einander sukzessive interpretierend, wobei sie das Buch immer mehr zur »Endgestalt« hin ausformten. Man liest Wittes Rekonstruktion des Hiobbuches daher auch dann mit Gewinn, wenn man eher einem literaturwissenschaftlichen »holistischen« Zugang zum Buch folgt (vgl. dazu S. 46). Was er angesichts dessen aber aufzeigt, ist, dass es einen »Endtext« in völlig fixierter Textform niemals gegeben hat. Jeder »kanonische« Zugriff steht deshalb in der Gefahr, die Vielfalt und diskursive Dynamik von Text und Auslegung aus dem Blick zu verlieren, die dieses biblische Buch nicht »fertig« werden ließ, wohl auch, weil niemand mit seinem Thema fertig werden kann (57). Letzteres führt auf die hermeneutische, von Sensibilität für christliche wie jüdische Textwahrnehmung getragene Dimension des Kommentars. Immer wieder öffnen sich in den Einzelauslegungen wie in den Ein- und Ausleitungen zu größeren kompositorischen Einheiten theologische Ausblicke und kulturelle Rezeptionsperspektiven. Das geschieht mitunter auch organisch aufgrund sprachlicher Einzelbeobachtungen. Ein schönes Beispiel ist der Name des Landes »Uz«, aus dem Hiob, der Nichtisraelit, stammt (Hi 1,1). Witte deutet ihn wegen der klanglichen Nähe zu hebräisch ‘eṣāh »Rat/Ratschluss/Plan« in der märchenhaft anmutenden Erzähleröffnung als tiefgründigen Vorverweis: »Es war ein Mann im Land des Ratens« (84). So sind hier die im Buch folgenden weisheitlichen Dialoge ebenso schon angedeutet wie die Vorstellung von JHWHs kosmischem Ratschluss (Hi 38,2) und Hiobs am Ende erfolgende Einstimmung in diese ihm unzugänglich bleibende Erkenntnis (Hi 42,3): »So ahnen die Leser schon nach den ersten Worten, was sie im Folgenden erwartet. Ein Raten und ein Rätseln.« (84). Ähnlich grundsätzlich auf die Deutung des Buches im Ganzen bezogen erscheint der Hinweis zur ersten Gottesrede Hi 38 angesichts der (rhetorischen) Frage JHWHs, wo Hiob bei der Erschaffung der Welt gewesen sei:

»Mit diesen beiden Worten ‘êpoh hājîtā (›wo warst du?‹) ist Hiob – und dem Leser – die Aufgabe gestellt, den eigenen Standort in der Welt zu bestimmen: Kosmologie zielt auf Orientierung in Raum und Zeit [...]. So muss Hiob sein Schicksal selbst einzeichnen in sein Bild von Gott, von der Welt und vom Menschen. Die Frage ›Wo warst du‹ ist das Gegenüber zum Namen Hiobs ›Wo ist der (göttliche) Vater‹ [vgl. S. 6: ’jwb/’jjôb, abgeleitet aus ’aj/’ej ’āb], sie ist zugleich die Frage ›Wo bist du‹ und ›Wo wirst du sein‹. Gottes Frage zielt auf den Ort der Existenz, auf die Stellung des Geschöpfs vor ihm. Weder die Erfahrung der Freunde noch die von ihnen beschworene Tradition, noch die von Hiob letztlich in Anschlag gebrachte Torah konnten bisher eine Antwort geben. Diese muss sich Hiob – und mit diesem der Leser – selbst geben.« (614)

Der Hiobkommentar von Markus Witte ist ein von beeindruckender Gelehrsamkeit getragenes Ergebnis einer über Jahrzehnte aufrecht erhaltenen akademischen Beschäftigung mit diesem biblischen Buch. Es bleibt dem Werk zu wünschen, dass es viele philologisch und theologisch interessierte Leserinnen und Leser findet. Die auf jeder Seite spürbare Faszination des Verfassers für die Weite der antiken Diskurse, die in diesem »Werk sui generis« ihren Niederschlag als »Auseinandersetzungsliteratur oder Vorwurfdichtung« gefunden haben (26), überträgt sich, sobald man sich auf das Detail einlässt, von dem aus sich das Ganze öffnet und erschließt.

Friedhelm Hartenstein (München)

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