Buch des Monats: April 2022

Dibelius, Otto

Unsere Großstadtgemeinden[,] ihre Not und deren Überwindung.

Gießen: Alfred Töpelmann 1910. 24 S. Broschur. Vergriffen.

Der junge Otto Dibelius (1880–1967) begann seine pastorale Laufbahn in den ländlich geprägten brandenburgi-schen Kleinstädten Guben und Crossen/Oder. Nachdem er im Herbst 1910 an die reformierte St. Petri- und Pau-li-Gemeinde in Danzig berufen worden war, erfuhr er die ekklesialen Nöte der Großstadt erstmals am eigenen Leib. Alsbald stellte er sich dieser Herausforderung in einem Gemeindevortrag, dessen umgehend erfolgte Druck-legung hier zu würdigen ist: Mit der engagierten Abhandlung »Unsere Großstadtgemeinden[,] ihre Not und deren Überwindung« entwarf Dibelius ein originelles, eigenständiges, wegweisendes Kirchenreformprogramm.
Vergleichbare Konzepte waren im 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreich schon verschiedentlich vorgelegt worden. Als führende Gestalt der damaligen sog. Gemeindebewegung trat der in Chemnitz und Dresden wirken-de Pfarrer Emil Sulze hervor. Sein an die Vereinsstruktur angelehntes Konzept zielte auf die Errichtung über-schaubarer, nur von einem einzigen Pfarrer geleiteter, in mehrere Seelsorgebezirke unterteilter Kirchengemeinden, in denen die Presbyter und andere Parochialglieder selbstständig an dem auch konstitutive gesellige Elemente einschließenden Gemeindedienst mitwirken wollten.
Der von Dibelius verfochtene Ansatz war anderer Art. Als Kernproblem nahm er in Danzig eine dramatische Ent-fremdung von der Kirche, ja vom Christentum überhaupt wahr, die durch die Kombination der aktuellen freigeis-tigen Strömungen mit der Anonymität und sozialen Isolation, denen die Bewohner von Großstädten ausgesetzt sind, ausgelöst oder jedenfalls nachhaltig befördert worden sei. Dabei zollte Dibelius zwar auch den von Sulze verfolgten kirchenreformerischen Intentionen seinen Respekt, quittierte ihnen aber zugleich eine höchst einge-schränkte Realisierungspotenz sowie, daraus resultierend, die ungewollte Provokation der fatalistischen Schluss-folgerung, der Versuch, in den Großstädten lebendige Kirchengemeinden aufbauen zu wollen, habe sich definitiv als utopisch erwiesen (vgl. 14 f.).
Der Optimismus, mit dem Dibelius demgegenüber sein Danziger Konzept vorstellte, nährte sich im Wesentli-chen aus den ihn überwältigenden Erfahrungen, die er im Sommerhalbjahr 1906 mit dem blühenden kirchlichen Leben im schottischen Edinburgh hatte sammeln können. Auch wenn er die kirchliche Organisation Schottlands durchaus nicht deckungsgleich auf Preußen und Deutschland übertragen wollte, lag für ihn das Folgende doch außerhalb jedes Zweifels: „Es ist die Gemeindeorganisation gewesen, die die Kirchlichkeit und damit das religi-öse Leben des Volkes geschützt hat gegen die Gefahren der Großstadtkultur, die in Schottland natürlich in ganz demselben Maße vorhanden sind als bei uns“ (18).
In seinem konstruktiven Kirchenreformprogramm geht Dibelius von der Annahme aus, dass der weit überwiegende Teil einer Gemeinde für eine Partizipation am kirchlichen Leben keinerlei Interes-se aufbringe und darum etwa das von Sulze verfolgte Konzept einer flächendeckenden Bezirks-betreuung nur wertvolle Ressourcen vergeude (vgl. 14). Demgegenüber möchte er nach dem Beispiel, das „alle großen Seelsorger unserer Kirche“ gegeben haben, die Bemühungen zunächst ganz auf die »engere Gemeinde« (14) bündeln. Konkret entwirft Dibelius einen organisch dy-namisierten Drei-Stufen-Plan, der das Sulze-Konzept zwar grundsätzlich voraussetzt, es aber in entscheidender Weise modifiziert.
Der erste Schritt zielt auf die regelmäßigen Teilnehmer am gottesdienstlichen Leben. Weil ihnen allein aus dem sonntäglichen Kirchgang noch kein lebendiges Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinde erwachsen könne, sollten sie regelmäßig über die Geschehnisse in der Parochie in-formiert werden – durch Jahresberichte, eine jährliche Gemeindeversammlung und „monatliche Nachrichten“ (20), die in der Gestalt eines Gemeindebriefs an alle kirchlichen Haushalte zu ver-teilen sind. Eine bevorzugte Maßnahme, unter den Kirchgängern »ehrliche Begeisterung« (20) zu erwecken, findet Dibelius in der fortlaufenden Berichterstattung, was die Kollekten eines je-den Gottesdienstes erbracht haben und wofür sie sowie die landeskirchlichen Abgaben jeweils konkret verausgabt werden sollen.
Darauf aufbauend möchte Dibelius in einem zweiten Schritt den Stamm der Kirchgänger aus der passiven Rezipientenrolle in den Status einer aktiven Teilnahme am Gemeindeleben überführen. Dies beginne mit der Ermöglichung und Ermunterung einer Kommunikationsstruktur, in der »die Glieder der Gemeinde ihre Meinung und ihre Wünsche dem Geistlichen gegenüber zur Geltung bringen können« (20), was freilich die Eröffnung entsprechender Kontaktmöglichkeiten voraussetze. Dibelius denkt dabei an die wiederholte Einladung des Pfarrers, ihn zwanglos und niederschwellig zum Gespräch aufzusuchen, ferner an offene Abende im Pfarrhaus und »be-sondere Abende […], die der Besprechung von Gemeindeangelegenheiten gewidmet sind« (21). Damit verbunden werden dem Pfarrer zwei pastorale Spezialmaßnahmen ans Herz gelegt. So möge er, fordert Dibelius, seinen Gemeindegliedern immer wieder beteuern, »daß er sich über jeden Brief freut, der ihm Wünsche für die Themata der Predigt oder Fragen im Anschluß an eine seiner Predigten übermittelt« (21). Dazuhin soll der Pfarrer möglichst jede Veranlassung, die sich bietet, zu einem seelsorgerlichen Hausbesuch im Kreis der treuen Kirchgänger nutzen, aber auch, einem in Schottland gebräuchlichen Dienstangebot folgend, vorgedruckte Karten aus-legen, auf denen jedermann ohne Scheu, sei es für sich selbst oder eine dritte Person, einen Hausbesuch des Pfarrers erbitten kann.
Wenn sich die damit umrissene Vitalisierung der Kerngemeinde annähernd etabliert hat, sieht Dibelius den Zeitpunkt gekommen, um ein drittes, bipolares Maßnahmenbündel in Angriff zu nehmen. Zum einen geht Dibelius davon aus, dass es bei den nun aktiv eingebundenen regelmä-ßigen Kirchgängern an dem Willen zur Mitarbeit keineswegs fehlen werde und sie sich auf ver-schiedenen Feldern, etwa in der Jugendarbeit. dem Kindergottesdienst oder der gemeindlichen Sozialfürsorge, kurzum: überall dort, wo der Pfarrer nicht allein zu agieren vermag, gern in die Verantwortung nehmen ließen, und dies um so freudiger, je weniger sie dabei einer unnötigen bürokratischen Pedanterie ausgesetzt werden (vgl. 22). Zum anderen werde eine derart koope-rierende Kerngemeinde dann auch in der Lage sein, sich den abseits stehenden Gliedern der Pa-rochie missionarisch zuzuwenden, dies freilich nicht im Gestus des fordernden Anspruchs, sondern des selbstlosen Dienstes:

»Das Geheimnis dieser Missionsarbeit liegt […] darin, daß die Menschen, die wir erobern möch-ten, nicht den Eindruck gewinnen dürfen, als wollten wir etwas von ihnen haben, ihr Geld, zu-nächst nicht einmal ihren Kirchenbesuch, sondern daß sie merken, daß uns unser Glaube dazu treibt, ihnen als Menschen, die in unserer Mitte wohnen, etwas Liebes zu erweisen, ganz selbst-los, ganz ohne Hintergedanken« (23).

Dabei stelle der originelle Blumen-Kindergottesdienst, den Dibelius in Schottland kennengelernt und dann in Guben und Crossen auch selbst praktiziert hat (vgl. 23), nur eine von zahlreichen Möglichkeiten bereit, bei deren Umsetzung natürlich auch die soziokulturellen Unterschiede, die beispielsweise zwischen einer Hamburger Vorort- und einer Berliner Arbeitergemeinde beste-hen, gebührende Berücksichtigung finden sollten. Entscheidend aber, unterstreicht Dibelius am Ende, sei allemal, dass zuerst aus der engeren Gottesdienstgemeinde eine lebendige Gemein-schaft entstehe, die dann eine werbende Ausstrahlung in die noch in Passivität verharrenden Teile der Parochie zu entfalten vermöge.
Der wenige Jahre später ausbrechende Erste Weltkrieg hat Dibelius, der 1911 in die hinterpommersche Kleinstadt Lauenburg versetzt wurde und 1915 ein Pfarramt in Berlin-Schöneberg antrat, daran gehindert, sein auf Friedens-zeiten kalkuliertes Kirchenreformprogramm konsequent umzusetzen. Gleichwohl hatte er damit einen bedeuten-den, gegenüber dem Sulze-Konzept eigenständigen Beitrag zur Gemeindebewegung erbracht. Eine signifikante Besonderheit zeigte sich insbesondere darin, dass Dibelius die Parochie als ein insgesamt autonomes kirchliches Handlungssubjekt darstellte und der ihr zugeschriebenen Aufgabe weder eine Kooperation noch eine Abstim-mungspflicht mit dem Konsistorium oder anderen kirchenleitenden Organen zudachte, sondern allein die Einzel-gemeinde als Ursprungsort geistlicher Erneuerung auswies.
Dergestalt präsentiert sich der Danziger Vortrag als eine signifikante, noch längst nicht zureichend gewürdigte Vorarbeit für das 1926 erschienene, rasch fünf weitere Auflagen auslösende Hauptwerk, mit dem Dibelius das aktuelle Säkulum als »Das Jahrhundert der Kirche« identifizierte.

Albrecht Beutel (Münster/Westf.)

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