Buch des Monats: März 2022

Köhler, Joachim

Verloren im Cyberspace. Auf dem Weg zur posthumanen Gesellschaft.

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 368 S. Geb. 16,90 EUR. ISBN 978-3-374-06758-9.

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Wie geht man mit jemandem um, dessen Heimat überall und nirgends ist? Mit einem, der scheinbar alles vermag und alles weiß, der aber weder glauben, lieben noch hoffen kann? Kurz: Der alles kann, aber nichts ist. Nein, dies ist keine Leseempfehlung zu Nietzsches »Übermenschen«, sondern die einer Kulturkritik des virtuellen Raums. Der Schriftsteller und theologisch gebildete Philosoph Joachim Köhler befasst sich in seinem neuen Werk mit der Cyberwelt als einem so neuen wie zentralen Raum unseres Seins und dessen Verhältnis zu eben diesem: dem Sein.
Der Autor stellt sich dem nur scheinbar offensichtlichen Unterfangen, uns Menschen in unserem Menschsein auf einer virtuellen Landkarte zu verorten mit der daraus folgenden, denknotwendigen Frage: Was wird aus uns auf dieser Landkarte angesichts der neuen Herausforderungen virtueller Realitäten, gefangen zwischen Big Data und Künstlicher Intelligenz (KI)? Wird angesichts der Weiterentwicklung letzter der Mensch die Landkarten seines Seins noch selber schreiben oder wird er mittelfristig im virtuellen Raum verschwinden, ohne dies überhaupt selbst zu bemerken? – Vorausgesetzt es gibt dort noch ein »Selbst«.
Dabei liegt die Stärke und das Lesenswerte dieses Buches nicht in einer angelesenen Informatikexpertise des Autors, sondern vielmehr in seiner Belesenheit und deren konkreter Applikation im Digitalen Raum. Ein Beispiel: So bemüht Köhler einen Ausflug in die Welt von Grimms Märchen, um daran gerade dem modernitätsgläubigen Teil seiner Leser ihre Situation im Cyberspace zu verdeutlichen:
»Der User des Internet, dem jeder Wunsch gratis erfüllt wird, befindet sich in ähnlicher Lage wie die Märchenkinder (bei »Hänsel und Gretel«). Er glaubt, dass alle Speisen für ihn allein angerichtet sind. Und dabei wird er selbst zur Speise. Man kocht ihn ab, bis er gar ist und für den E-Commerce, den Online-Handel, angerichtet. Oder wie auch Apple-Chef Tim Cook warnte: ›Wenn der Service kostenlos ist, dann bist Du nicht der Konsument, sondern das Produkt.‹« (83)
So wird der Autor zum virtuellen Anthropologen, der von Menschen erzählt, denen gelehrt wird, dass sie nicht mehr lernen müssen und dass es unerfüllbare Wünsche nicht mehr gibt – was am Ende Wünsche insgesamt auslöscht.
Diese theologisch-philosophische Grundierung von menschlichen Bedürfnis–sen und deren fundiert-gebildeter Entwicklungsabgleich in und mit der neuen Cyberwelt, welche uns Menschen – ob als Kriegsteilnehmer, Liebende oder Konsumenten – wegzuwischen vermag wie die aufgerufenen Seiten auf dem I-Pad – dieser Abgleich von alten und neuen Realitäten ist das, was »Verloren im Cyberspace« zu einer realen Leseerfahrung macht. Und wer danach bei Amazon etwa dieses Buch bestellt, der sieht nach dessen Lektüre erschreckend klarer, dass er weit mehr getan hat, als nur ein Buch zu bestellen. Und wer nicht handelt, wird behandelt.

Nils Ole Oermann (Lüneburg)

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