Book of the month: December 2021

Gratz, Michael [Hg.]

Sibylla Schwarz (1621–1638) – Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe in 2 Bänden. Bd. 1: Briefe, Sonette, Lyrische Stücke, Kirchenlieder, Ode, Epigramme und Kurzgedichte, Fretowdichtung. Mit den Worterklärungen für beide Bände.

Leipzig: Verlag Reinecke & Voß 2021. 269 S. m. Abb. Geb. EUR 40,00. ISBN 9783942901444. Bd. 2: Heroische Stücke, Erzählende Dichtung, Drama, Paratexte und Dokumente. Anhang mit Nachwort und Registern. Leipzig: Verlag Reinecke & Voß 2022.

Order this book

Im Dezember 2021 geht ein Jubiläumsjahr zu Ende, das weit über Greifswald und Vorpommern hinaus Beachtung gefunden hat: Sibylla Schwarz, deren kurzes Leben von den Wirren des Dreißigjährigen Krieges überschattet war, hinterließ ein poetisches Werk, das auch 400 Jahre nach ihrer Geburt nichts an Frische verloren hat. Mit ihren Dichtungen, die ein breites Gattungsspektrum abdecken, stellt sie auf der literarischen Szene der Zeit eine singuläre Erscheinung dar. Im 17. Jh. dürfte ihr Buch das einzige aus der Feder einer Frau sein, das nicht nur geistliche Lieder enthält.
Sibylla wurde am 14. Februar 1621 als jüngste Tochter des Greifswalder Bürgermeisters Christian Schwarz geboren. Mit ca. zehn Jahren begann sie zu dichten, mit 17 Jahren verstarb sie am 31. Juli 1638 an der Ruhr. Samuel Gerlach (kurzzeitig als Hauslehrer Sibyllas tätig) ist es zu verdanken, dass ihre nachgelassenen Gedichte erhalten geblieben sind. 1650 gab er in Danzig postum zwei Bände unter dem Titel Sibyllen Schwarzin/Vohn Greiffswald aus Pommern / Deutsche Poëtische Gedichte heraus, versehen mit einer Widmung an die jugendliche, der Literatur und den schönen Künsten zugewandte Königin Kristina von Schweden. Dieses Buch, das von der Kritik zunächst aufmerksam und lobend wahrgenommen wurde, verschwand mit der Zeit allmählich wieder aus dem Blickfeld des Publikums. Heute zählt man davon weltweit nur noch ca. zehn Exemplare. In verschiedenen Anthologien tauchte Sibylla hier und da noch einmal auf. Doch mit dem Verlust allgemeiner Zugänglichkeit verblassten schließlich auch diese sporadischen Erinnerungen. Erst in den 1960er Jahren erwachte das Interesse von neuem und setzte eine (vorerst noch verhaltene) Sibylla-Schwarz-Forschung in Gang. 1980 besorgte der Peter-Lang-Verlag einen Faksimiledruck, der das Buch von 1650 wieder in seinem ganzen Umfang vorlegte, jedoch durch das altertümliche Layout bestenfalls das gelehrte Fachpublikum zur Lektüre einlud. Auch die Mängel der Reproduktion waren der Erweckung einer neuen Leselust nicht unbedingt zuträglich. Inzwischen treten diesem Faksimile deutlich qualitätvollere Digitalisate zur Seite.
Würdigen kann man nur, was auch bekannt ist. Diesem Anliegen kommt die erste kritische Edition von Sibyllas Gedichten durch den Greifswalder Germanisten Michael Gratz entgegen, die – lange schon erwartet – nun auch pünktlich zum Jubiläumsjahr vorliegt. Sie umfasst zwei Bände, löst sich aber vollständig von der Anlage des ursprünglichen Druckes ab. Aus welchen Gründen auch immer Samuel Gerlach seinerzeit auf eine erkennbare Ordnung verzichtet haben mag – Michael Gratz stellt sie nun her. Er gliedert die Dichtungen in der vorliegenden Edition nach Werkgruppen und berücksichtigt dabei auch mögliche Datierungen. Beide Bände halten auseinander, was 1650 noch vermischt erscheint. Band 1 präsentiert Sibyllas eigene Texte in der Anordnung Briefe, Sonette, Lyrische Stücke, Kirchenlieder, eine Ode, Epigramme / Spruchhaftes / Kurzgedichte, Fretowdichtung; den Abschluss bilden ein Index und eine Worterklärung für beide Bände. Band 2 präsentiert von Sibyllas Texten noch Heroische Stücke und Erzählende Dichtungen, darüber hinaus aber vor allem Paratexte und grafische Beigaben, Widmungs-, Ehren- und Trauergedichte, Zeugnisse zu Leben und Werk, ein Nachwort, Register und Verzeichnisse sowie eine umfassende Bibliographie. Bei der erzählenden Dichtung handelt es sich um die Geschichte von Daphne (nach Ovid), ein Schäferstück im Geschmack der Zeit unter dem Titel »Faunus«, sowie ein Dramenfragment über die biblische Susanna-Geschichte. Unter den Paratexten finden sich weitere Bestandteile der Ausgabe von 1650 wie etwa Titel und Titelkupfer, Zwischenüberschriften, eine Nachschrift Gerlachs und eine Liste seiner Berichtigungen, die Widmung an Königin Kristina, sowie Preis- und Trauergedichte von Zeitgenossen auf Sibylla. Letztere sind, sofern in Latein verfasst, zum ersten Mal auch mit einer deutschen Übersetzung und weiterführenden Erklärungen versehen. Der Eintrag Sibyllas in Samuel Gerlachs Stammbuch (der einzig erhaltene Autograph der Dichterin) wird im Wortlaut mitgeteilt; aus der umfangreichen Leichenpredigt Christoph Hagens kommt ein kurzer Auszug, der vor allem die so genannten Personalia enthält, zum Abdruck; daran schließen sich die Inschrift auf dem Epitaph in der Greifswalder Nikolaikirche und weitere biographisch belangvolle Dokumente an. Die umfangreichen Register machen es leicht, in beiden Bänden zu navigieren und Gesuchtes punktgenau aufzufinden; eine hilfreiche Innovation stellen das »Numerische Titelverzeichnis« und das »Chronologische Verzeichnis« dar, die mit neuen Ordnungskategorien an Sibyllas Werk herantreten. Nachdem ein kurzes Vorwort des Herausgebers in Band 1 schon die Benutzung der Edition erläutert hatte, gibt nun ein ausführliches Nachwort am Ende von Band 2 Auskunft über deren Prinzipien, im Besonderen aber über die Anordnung des Materials, die sich (bei einem gewissen Pragmatismus) grundsätzlich an den vorliegenden Gattungen orientiert.
Auf diese Weise gewinnt man einen schnellen und leichten Überblick über dieses erstaunlich vielschichtige Werk. Sibyllas Verse füllen in der Edition von Michael Gratz jeweils nur die rechten Seiten; die linken sind detaillierten Anmerkungen zur Werkgeschichte, zum Metrum, zur Semantik einzelner Begriffe oder der Erklärung sachlicher Zusammenhänge vorbehalten. Die Aufmachung beider Bände, die in Leipzig bei Reinecke & Voß erschienen sind, erfreut das Herz aller, die schöne Bücher lieben. Schon das Layout fällt aus dem Rahmen des Üblichen. Farbige Trennblätter markieren die einzelnen Werkgruppen. Schriftart und Anordnung machen die Lektüre zu einem Genuss. Die ursprüngliche Orthographie, der Gebrauch von Initialen oder die Zeichensetzung einschließlich der Virgeln sind, den Anforderungen an eine kritische Edition entsprechend, beibehalten, jedoch lesefreundlich in ansprechende Typen gesetzt. So tritt der zeitliche Abstand der Texte unmerklich zurück und die Verse der jungen Dichterin kommen ihrem heutigen Lesepublikum verblüffend nahe. Auf Verlockung und breite Rezeption zielt die Entscheidung des Verlages ab, der kritischen Edition sogleich eine Taschenbuch-Fassung zur Seite zu stellen, in identischer Anordnung der Texte, jedoch mit eigenem Layout; so stehen hier z. B. die Anmerkungen jeweils am Fuß der rechten und linken Seiten.
Sibylla Schwarz gehörte zur bürgerlichen Elite der Hansestadt Greifswald. Im Haus ihres Vaters gingen die Räte des Herzogs und die Professoren der Universität aus und ein. Zweifellos hatte sie am Unterricht ihrer Brüder teil und erwarb sich schon früh einen weiten Bildungshorizont. Sozialisiert im Kontext lutherischer Frömmigkeit wurde für sie vor allem die Lektüre von Martin Opitz zu einem literarischen Erweckungserlebnis. Dessen Buch von der Deutschen Poetery (1624) motivierte Sibylla zu eigenen Versuchen in allen jenen Gattungen, die sie dort vorfand. Die Eleganz und Originalität, die sie dabei bewies, fand schon bei ihren Zeitgenossen Bewunderung. Mit Souveränität beherrscht sie die Form des Sonetts, wechselt nach Belieben zwischen verschiedenen Versmaßen und macht schließlich den damals beliebten Alexandriner zu ihrem bevorzugten Reimvers. Ob sie Latein verstand, lässt sich nur schwer einschätzen. Nachweislich las sie jedoch niederländische Literatur und fertigte daraus Übersetzungen an.
Für die Theologie- und Kirchengeschichte sind einige der Texte Sibyllas von besonderem Interesse. Als regelmäßige Kirchgängerin und (vermutlich) gute Gesangbuchkennerin verfasste sie auch geistliche Lieder, allerdings nur vier an der Zahl. Drei sind Sterbelieder, eines davon unmittelbar vor ihrem Tod verfasst; eines ist ein Osterlied – ein Triumphlied auf die Auferstehung Jesu. Der Tod ist zu ihrer Zeit allgegenwärtig, was sich auch in einigen ihrer Gelegenheitsdichtungen auf Trauerfälle niederschlägt. Das letzte der Sterbelieder hat es dann auch in ein gedrucktes Gesangbuch (in die Altdorfische Liedertafel von 1701 und 1718) geschafft. Durchgängig erweist sich Sibylla (bei aller Begeisterung für die griechische Mythologie und das Ideal ihres Pommerschen Helikon) als getreue Vertreterin lutherischer Kirchlichkeit. In einem Gedicht »Auff das Behtfest / Das alle vier Wochen / zuhm Greiffswalde / in allen Kirchen gehalten wird« und das offenbar auf ein regelmäßiges Bittgebet in Kriegszeiten Bezug nimmt, zeigt sie sich vertraut mit Vokabular und Bildsprache der zeitgenössischen Gebetbuchliteratur; namentlich zu Johann Arndts Paradiesgärtlein (1612) lassen sich hier einige auffällige Parallelen erkennen. Dazu gehören unter anderem auch die Betrachtung der »roten Wunden Jesu« oder die Tradition der ars moriendi.
Zugleich verrät Sibylla in zahlreichen Details eine gute Kenntnis der Lutherbibel. Namentlich Frauengestalten wie Judith oder Susanna haben es ihr angetan. Über die Geschichte der Susanna verfasst sie ein Drama, das leider Fragment geblieben ist. Der Stoff erfreut sich in der frühen Neuzeit großer Beliebtheit; seit den Tagen der Reformation gibt es bis dahin schon ca. zwanzig dramatische Bearbeitungen. Sibylla zeigt sich davon jedoch weithin unbeeinflusst und stützt sich ausschließlich auf den Bibeltext. Der Susanna verleiht sie Stimme und Profil und macht sie zur Protagonistin ihres eigenen großen Themas – der Auseinandersetzung mit dem »Neid«. Da wo Sibylla mit Vehemenz das Recht einfordert, auch als Frau der Poesie leben zu dürfen, sucht sie den Schulterschluss mit der biblischen Figur, die auf ganz anderen Feldern einen Kampf gegen Neid, Missgunst und Verleumdung zu führen hat.
Was Sibylla an theologischer Literatur kannte, lässt sich nicht mehr feststellen – mit einer Ausnahme. Noch auf dem Sterbebett spricht sie mit Christoph Hagen, der kurz darauf ihre Leichenpredigt hält, über Philipp Nicolais Buch vom ewigen Leben; dabei könnte es sich sowohl um den Freudenspiegel des ewigen Lebens (1599) als auch um die »Theoria vitae aeternae« (1606) handeln. Prägend ist diese Lektüre dann vor allem für Hagens Predigt geworden. Dass sie auch einen Kontext für Sibyllas Sterbelieder darstellt, liegt auf der Hand.
Den größten Teil nehmen in Sibyllas Werk jene Texte ein, in denen sie die Poesie rühmt und verteidigt – gegen den Neid, den falschen Adel, die Missgunst oder die zerstörerische Macht des Krieges. Das Landgut der Familie Schwarz im nahegelegenen Fretow / Frätow (an der Gristower Wiek) überhöht sie zu einem Ort des Friedens und der Schönheit, an dem sich die Musen tummeln und die Freundschaft lebt, zu einer Gegenwelt der vom Krieg heimgesuchten Stadt Greifswald. Hier stilisiert sie die anmutige Landschaft als ihren »Helikon« – und beklagt die Zerstörung Fretows durch schwedische Truppen im Jahre 1637 mit einem »Trawer-Spiel«, in dessen Vorspann die olympischen Götter (ähnlich dem Hiob-Prolog) darüber debattieren, ob und wie weit Mars bei seinem unseligen Werk überhaupt freie Hand haben dürfe.
Alle diese Texte, die bislang in der theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Forschung zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges kaum eine Rolle gespielt haben, warten noch immer auf ihre Rezeption. Dafür liefert die kritische Edition von Michael Gratz nun erstmals eine verlässliche Grundlage. Nachdem die Sibylla-Schwarz-Forschung durch die Dissertation von Helmut W. Ziefle (1975) sowie die in der Zeitschrift Daphnis 44 (2016) veröffentlichten Beiträge einer Greifswalder Fachtagung von 2013 einen neuen Aufschwung genommen hat, ist ihr nun ein Instrument in die Hand gegeben, das die weitere Arbeit deutlich erleichtert und nachdrücklich fördert. Dafür gebührt dem Herausgeber ein ausdrücklicher und herzlicher Dank!
Begleitet wird diese kritische Edition im Jubiläumsjahr von weiteren Publikationen, die den Zugang zu Sibylla Schwarz über das Fachpublikum hinaus für eine breite Leserschaft öffnen. Dabei handelt es sich um eine gediegene diplomatische Edition des ursprünglichen Danziger Druckes von 1650 durch Klaus Birnstiel im Wehrhahn Verlag Hannover, die Auswahl-Sammlung »Ich fliege himmelan, mit ungezähmten Pferden« im Secession Verlag Zürich von Gudrun Weiland, oder eine Hommage an das Geburtstagskind unter dem Titel »... und bey den Liechten Sternen stehen« von Berit Glanz und Dirk Hansen bei Reinecke & Voß in Leipzig; die Graphic Novel Sibylla im Reprodukt Verlag Berlin aus der Feder von Max Baitinger gestattet sich einen launigen Blick auf die Figur der eigenwilligen Bürgermeisterstochter. In Vergessenheit sollte Sibylla Schwarz jedenfalls nicht mehr geraten (vgl. auch http://www.sibylla-schwarz.de/). Die mit Sorgfalt und Hingabe gestaltete Ausgabe dieses einzigartigen Werkes durch Michael Gratz ist ein besonders würdiger und schöner Gruß zum 400. Geburtstag der »Pommerschen Sappho«. Happy Birthday, Sibylla!

Christfried Böttrich (Greifswald)

More books