Book of the month: November 2021

Koopmans, Ruud

Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt.

München: C. H. Beck 2020. 288 S. m. Abb. u. Ktn. Geb. EUR 22,00. ISBN 978-3-406-74924-7.

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Das Buch des niederländischen Sozialwissenschaftlers Ruud Koopmans greift ein auch für deutsche Diskurse brennendes Thema auf. Es geht im Blick auf mehrheitlich muslimische Gesellschaften um die Frage, welche Rolle der Faktor Religion für gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und andere Bereiche spielt. Gegenüber einem essentialistischen Religionsverständnis einerseits und der Leugnung des Faktors Religion für soziale, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Prozesse andererseits stützt sich der Vf. auf empirische Studien und wählt eine »vergleichende Methode«.
Es werden in mehreren Durchgängen Länder mit einer ähnlichen wirtschaftlich-politischen Ausgangssituation verglichen, bei denen jeweils ein Land eine mehrheitlich muslimische, das Vergleichsland dagegen ein mehrheitlich anders-religiöse Bevölkerung aufweist: »In Kapitel 2 sind dies die islamischen Malediven und das hinduistische Mauritius; in Kapitel 3 das mehrheitlich hinduistische Indien einerseits und die islamischen Teile des ehemaligen Britisch-Indiens, Pakistan und Bangladesh andererseits; in Kapitel 4 vergleiche ich den islamischen Norden mit dem christlichen Süden Nigerias; in Kapitel 5 Ägypten und Süd-Korea; und in Kapitel 6 libanesische Christen und libanesische Muslime, die nach Australien ausgewandert sind.« (52)
An den Kapitelüberschriften lassen sich die Befunde bereits ablesen. Sie lauten: »2. Warum ist die Demokratisierung an der islamischen Welt vorbeigegangen?« (57-82); »3. Die religiösen Wurzeln der Unfreiheit« (83–112); »4. Die islamischen Religionskriege« (113–154); »5. Die wirtschaftliche Stagnation der islamischen Welt« (155–188); »6. Die schwierige Integration muslimischer Migranten« (189-224) und schließlich; »7 Kann sich der Islam vom Fundamentalismus befreien?« (225–254).
Das Ergebnis seiner breit datenbasierten Fall-Analysen fasst Koopmans wie folgt zusammen: »Diese Fallbeispiele zeigen, dass die islamischen Länder, Regionen und Migrantengruppen trotz sehr ähnlicher Ausgangspositionen in Bezug auf Demokratie, Menschenrechte, politische und religiöse Gewalt, Wirtschaftswachstum und Integration in den letzten fünfzig Jahren hinter den nichtmuslimischen Vergleichsgruppen zurückgeblieben sind.« (52)
Der Faktor Religion spielt, so sucht der Vf. zu belegen, eine maßgebliche Rolle. Das Buch fokussiert auf die »Konfrontation religiöser und nicht-religiöser Erklärungen mit den uns bekannten Daten« zu den genannten Themen. Der Vf. zieht die »Schlussfolgerung, dass die Theorie, nach der die immer tiefere Krise, in die die islamische Welt in den letzten fünfzig Jahren geraten ist, hauptsächlich religiöse Ursachen hat, mit den uns vorliegenden Fakten übereinstimmt und dass alternative Erklärungen nicht oder weniger gut zu den verfügbaren Daten passen« (54). Wer glaube, eine bessere Erklärung bieten zu können, sei dazu herzlich eingeladen, eine solche zu liefern.
Das Buch bietet mit seinen methodologischen Reflexionen und empirischen Daten Anlass für einen konstruktiven Streit zum Thema Islamkritik, sowohl für die Arenen öffentlicher Debatten als auch innerkirchlicher Diskussionen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass oft jeglicher Kritik mit dem Vorwurf entgegengetreten wird, es handele sich um Islamophobie. Dass dieser Vorwurf von muslimischen Akteuren nur allzu leicht als Immunisierungsstrategie gegen jede Form von Kritik ins Feld geführt werden kann, ist bekannt. Doch auch westliche Intellektuelle und nicht selten Kirchenvertreter stimmen diesem Vorwurf zu. Als intellektuellen Hintergrund gibt Koopmans folgendes zu bedenken:

»Der Marxismus mag als Staatsideologie seine beste Zeit hinter sich haben, aber viele westliche Intellektuelle glauben immer noch fest an das Dogma des historischen Materialismus, das besagt, dass sich alle wesentlichen politischen Konflikte um wirtschaftliche Ausbeutung und Ungleichheit drehen und dass Kultur und Religion davon nur oberflächliche Nebenerscheinungen sind. Deshalb kann und darf für sie der Mangel an Demokratie und Menschenrechten in der islamischen Welt nichts mit Religion zu tun haben, sondern muss auf Armut, westlichen Kolonialismus und imperialistische Ausbeutung zurückzuführen sein. Deshalb darf es nicht sein, dass islamische Terroristen sich von ihren religiösen Überzeugungen inspirieren lassen, sondern müssen sozioökonomische Ausgrenzung und Diskriminierung die >wahren< Ursachen sein.« (124)

Es sind nach Koopmans religiöse Traditionen, die zur »Unterdrückung religiöser Minderheiten« wir zur »fehlenden Trennung von Religion und Staat« maßgeblich beitragen. (152) Wirtschaftliche Stagnation hänge mit einer geringen Wertschätzung qualitativ hochwertigen Bildung zusammen. Als Ergebnis des Vergleichs zwischen Ägypten und Süd-Korea etwa stellt der Vf. heraus, dass nichtmuslimische Länder mehrheitlich muslimische Ländern bei Patenten im Verhältnis von 1 zu 6 übertreffen. Ein Beispiel: In »2016 wurden in Ägypten 23 Patente pro eine Million Einwohner angemeldet, in Südkorea waren es mehr als 4000. […] Der Wissensmangel der islamischen Welt hat tiefe historische Wurzeln.« (181) Der Vf. belässt es nicht bei Behauptungen, sondern das Werk bietet eine Fülle von Belegen. Als Ausweg wird auf einen sich in sehr überschaubarem Rahmen entwickelnden Reformislam verwiesen und gleichzeitig hervorgehoben, wie gefährdet reformislamische Ansätze und deren Vertreter und Vertreterinnen sind (250 ff.).
Diesem Buch ist eine breite Leserschaft in Gesellschaft und Kirchen zu wünschen, weil es dazu einlädt, empirische Daten zur Kenntnis zu nehmen und methodologische Grundfragen zu bedenken, ohne die Diskussionen über das Thema Islam und Muslime ebenso leer wie beliebig bleiben. Wie dringlich es ist, diese Diskussionen zur führen, möge ein abschließendes Zitat belegen:

»Was können wir – Muslime und Nichtmuslime – tun, um den Fundamentalismus zu schwächen und liberale, reformorientierte Kräfte innerhalb des Islam zu fördern? Der erste und vielleicht wichtigste Beitrag zu einer Lösung ist anzuerkennen, dass die Hauptursache für die Probleme der islamischen Welt nicht außerhalb des Islam, bei der Islamophobie, dem israelisch-palästinensischen Konflikt oder beim westlichen Kolonialismus […], sondern in der Mitte der islamischen Gemeinschaft selbst liegt, in Form einer weit verbreiteten intoleranten Glaubensauffassung, die mit Hass und Gewalt gegen Andersgläubige einhergeht. Dies gilt auch im Hinblick auf die Integrationsprobleme konservativ-religiöser Muslime in westlichen Einwanderungsgesellschaften, die zu einem erheblichen Teil auf die gleichen religiösen Ursachen – etwa die ungleiche Behandlung von Frauen und die soziale Distanz zu Andersgläubigen – zurückgehen wie die Probleme der islamischen Herkunftsländer. Beide Probleme sind miteinander verknüpft, da die muslimischen Herkunftsländer durch fundamentalistische Missionsarbeit, die Finanzierung von Moscheen, die Entsendung von Imamen und damit die Kontrolle über die vermittelten Glaubensinhalte einen integrationshemmenden und zum Teil radikalisierungsfördernden Einfluss ausüben. Wir müssen deshalb von der unfruchtbaren Debatte darüber wegkommen, ob ›der‹ Islam zu Deutschland oder Europa gehört oder nicht, und stattdessen die richtige Frage stellen, welcher Islam zu einer liberalen Demokratie gehören kann und welcher nicht.« (243)

Henning Wrogemann (Wuppertal)

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