Book of the month: June 2021

Christoph Strohm

Kulturwirkungen des Christentums? Betrachtungen zu Thomas Karlaufs Stauffenberg und Jan Assmanns Totaler Religion.

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VIII, 225 S. Kart. EUR 24,00. ISBN 9783161601262.

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Die Frage nach der Einheit der theologischen Disziplinen und der Rolle der Theologie als Wissenschaft an der Universität gehört zu den Dauerfragen, die evangelische Theologie seit der im 17. Jahrhundert einsetzenden Ausdifferenzierung der theologischen Fächer beschäftigt. Das Interesse an der Einheit der Theologie ist dabei disziplinär unterschiedlich ausgeprägt. Während in den historischen Fächern vielfach das Interesse an der Eigenständigkeit historisch-kritischer Forschung gegenüber gesamttheologischen Interessen überwiegt, hat die Systematische Theologie, die sich seit Schleiermacher nicht nur für die Definition des Theologiebegriffs, sondern damit verbunden auch für die enzyklopädische Frage zuständig sieht, ein genuines Interesse an der Einheit der Theologie im Verbund der Disziplinen. Denn die in der Theologie gewachsene und für die Ausbildung verpflichtend gewordene Disziplinenvielfalt lässt sich wissenschaftlich nur durch einen Bezug auf eine gemeinsame theologische Aufgabe legitimieren. Zwar herrschen in der Systematischen Theologie kontro¬verse Auffassungen darüber, ob die Theologie als Wissenschaft bzw. als Kulturwissenschaft verstanden werden kann/soll und ob die Aufgabe der Theologie in der Linie der Wort-Gottes-Theologien auf die Kommunikation des Evangeliums oder in der Linie liberaler Theologien auf die Wesensbestimmung des (protestantischen) Christentums abstellt. Doch die Frage nach dem Zusammenhang von Historie und Systematik muss in beiden Fällen geklärt werden und lässt sich in der Exegese und in der Kirchengeschichte nur dann klären, wenn diese ihrerseits einen Bezug zur theologischen Aufgabe geltend machen.
Die Studie, die hier als Buch des Monats vorgestellt wird, stammt von einem Kirchenhistoriker, der die Kirchengeschichte dezidiert als theologische Disziplin versteht. Für Christoph Strohm ist klar: »Ein Kirchenhistoriker ist ein Historiker, der zugleich Theologe ist.« (9) Zum einen wenden »Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistoriker die gleichen Methoden wie Allgemeinhistoriker an« (9), und das mit der »notwendige[n] Ergebnisoffen¬heit, die den Historiker leiten muss« (11). Zum anderen suchen sie als Theologinnen und Theologen »an der Klärung der Frage mitzuwirken, welche Bedeutung, Gestalt und Relevanz das christliche Erbe in der Gegenwart hat« (11). Insofern sich die Kirchenhistorikerin und der Kirchenhistoriker an der »Aktualisierung evangelischer Theologie in der Gegenwart« (11) mit historisch-kritischer Kompetenz beteiligen, stehen sie vor der Aufgabe, die eigene Standort¬gebundenheit zu reflektieren, um das Problem zu minimieren, die eigenen Erklärungs¬interessen in die historische Rekonstruktion einzutragen. Gerade diese hermeneutische Aufgabe teilen sie mit Allgemeinhistorikern. Jede Geschichtsforschung ist standort- und standpunktgebunden, basiert auf Interessen und auf Voreinstellungen, die einen Einfluss darauf haben, welche Zusammenhänge aufgespürt und für evident gehalten werden. Die damit beschriebene Problematik und die darin konkret sich manifestierende Aufgabe kirchenhistorischer Forschung führt Christoph Strohm an zwei Fallbeispielen vor Augen. Das erste Fallbeispiel ist genommen aus der Erforschung des Widerstandes von Claus Schenk Graf von Stauffenberg gegen Hitler und andere Personen in seinem Umfeld. Strohm untersucht hier die Stauffenberg-Biographie des Verlagslektors, Literaturagenten und Autors Thomas Karlauf, die 2019 erschien und ihm die Einladung zum Hauptvortrag bei der Gedenkveranstaltung anlässlich des 75-jährigen Jahrestages des Attentats auf Hitler am 20. Juli 2019 in der Frankfurter Paulskirche eintrug. Nach Strohm besteht die Provokation des Werkes darin, »dass Karlauf Stauffenberg moralische oder religiöse Motive für seinen Entschluss zum Widerstand abspricht und das Attentat als einen allein militärischer Logik geschuldeten Militärputsch darstellt« (15). Neben dem Ansinnen, im Angesicht der drohenden Niederlage zu retten, was sich noch retten ließ, sei das Stauffenbergsche »Tat-Ethos« (15) geprägt von der in der Poesie von Stefan George aufleuchtenden Geisteshaltung. So komme George bei Karlauf als geistiger Urheber des Attentats zu stehen. In Strohms Auseinandersetzung mit dieser Deutung kann man sich die Vielschichtigkeit historischer Rekonstruktions- und Deutungsarbeit vor Augen führen. Strohm präsentiert zuerst die Forschungsgeschichte, eruiert dann die Fragen nach den moralischen Motivationen für den Militärputsch, untersucht den Einfluss von Stefan George und zeigt die Ambivalenzen auf, die sowohl die Position von George selbst wie auch die Intensität seines Einflusses auf Stauffenberg betreffen. Besonderes Gewicht liegt sodann auf der historischen Erkundung der Präsenz der christlichen Religion in Stauffenbergs Sozialisation und der Relevanz des christlichen Glaubens, die aus Zeugnissen von Zeitgenossen und Selbstzeugnissen hervorscheint. Erst dann kann der Historiker begründet die These vertreten, dass mit Karlaufs Deutung der »Verlust religiöser Bindungen und des Zugangs zur Sache der Religion«, wie er im letzten Drittel des 20. Jh.s dominant wurde, in die Motivlage für Stauffenbergs Entschluss zum Attentat zurückprojiziert wird. Diese These wird aber nicht etwa mit der schlichten Gegenthese verknüpft, sondern vielmehr mit einer grundsätzlichen Relativierung: »Der Nachweis und die Profilierung der Präsenz christlicher Bindungen bei Angehörigen des Widerstands gegen Hitler bedeutet noch keine Feststellung über ihre motivierende Bedeutung für den Widerstand. […] Man wird kaum präzise Aussagen über die Deutung des Zusammenspiels verschiedener Faktoren der durchaus unterschiedlichen Bedeutung religiös-ethischer Orientierungen bei den einzelnen Beteiligten, aber auch in unterschiedlichen Lebensphasen der Einzelnen treffen können.« (89)
Das zweite Fallballspiel bezieht sich darum gegenläufig auf die Behauptung kausaler Zusammenhänge zwischen kulturellen Wirkungen und religiöser Orientierung anhand der »Überlegungen des Ägyptologen, Kulturwissenschaftlers und Religionstheoretikers Jan Assmann zu Monotheismus, mosaischer Unterscheidung und ‚totaler Religion‘« (89 f.). Wie Strohm zeigt, hat Assmann seine These, dass der Monotheismus bzw. die mosaische Unterscheidung in ihrer Semantik ein Gewaltpotential enthalte, durch die Unterscheidung zwischen einem Monotheismus der Wahrheit und dem im Deuteronomium vertretenen Monotheismus der Treue differenziert. Mit dieser Differenzierung ist zugleich eine grundlegende Modifikation verbunden, insofern der deuteronomistische Monotheismus als Puritanismus interpretiert und in Analogie zum totalen Staat bei Carl Schmitt als totale Religion eingestuft wird. Strohm zeigt zunächst, dass die Analogie nicht trifft, weil »in Carl Schmitts Theoriebildung die Freund-Feind-Unterscheidung weder werkgenetisch noch sachlogisch mit dem Konzept des totalen Staates verbunden ist« (102), die Assmann für die totale Religion in Anschlag bringt. Zum anderen verunklare Assmann in seiner »Übertragung von Schmitts Konzepten des Politischen auf den Bereich des Religiösen«, dass sich der Geltungsanspruch von Religion in vormodernen Gesellschaften nicht wie die staatliche Gesetzgebung auf äußere Handlungen beziehe, sondern »per definitionem auf das Herz bzw. die Gesinnung« (103). Und schließlich impliziere »Assmanns Übertragung der Schmitt´schen Freund-Feind-Unterscheidung als Wesen des Politischen auf die Deutung des alttestamentlichen Monotheismus, dass die Abgrenzung vom Feind, insbesondere die Ausgrenzung des inneren Feindes, dessen wesentliches Anliegen gewesen sei« (104). Weder auf der Ebene der Texte noch in der Wirkungsgeschichte lasse sich eine solche Wesensbestimmung der Religion dingfest machen, ganz abgesehen von den Grundproblemen, die mit der Wesensbestimmung einer religiösen Formation überhaupt verbunden seien.
Was die Anforderungen an eine historische Begründung der Monotheismus-These mit der These vom kulturellen Gedächtnis betrifft, so macht Strohm ganz grundsätzlich geltend, dass ein rezeptionsästhetisch dominierter Ansatz durch mentalitätsgeschichtliche Zugänge zu ergänzen sei, die wiederum durch begriffs- und rezeptionsgeschichtliche Studien flankiert werden müssten. Damit ist das Spektrum historischer Methoden und Forschungsschritte angezeigt, die anzuwenden und zu verschränken sind, um historische Plausibilität für die Annahme von Kausalzusammenhängen zwischen lange zurückliegenden Phänomenen und deren Kulturwirkungen in Gestalt eines kulturellen Gedächtnisses herzustellen. Wirft schon die reiche kanonische Vielfalt der Texte die Frage auf, weshalb gerade von einer bestimmten Präsentation des Monotheismus eine so einlinige Kulturwirkung ausgegangen sein soll, so ergeben sich aus Strohms Relektüre der Wirkungsgeschichte in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit weitere Fragezeichen. Hier ist in den Unterkapiteln der Fallstudie reichlich Stoff gegeben für eine eigene kirchengeschichtliche Besprechung, die dieses Buch unbedingt verdient.
Beide in diesem Buch präsentierte Fallstudien sprechen nach Strohm »für multikausale Erklärungsmodelle und widersprechen teleologischen Deutungen« (182). Die besondere Überzeugungskraft seiner Rückfrage an die jeweilige kulturgeschichtliche Erklärungsleistung resultiert dabei nicht zuletzt aus ihrer Kombination. Während die erste Fallstudie Projektionsanfälligkeit historischer Motivationsforschung vor Augen stellt, bringt die zweite die komplexen Anforderungen an die historische Plausibilisierung der Behauptung von langfristigen Kulturwirkungen zur Geltung. Strohm kritisiert in den Fallballspielen zwar religionsvergessene und christentumskritische Interpretationen, doch nicht mit dem schlichten Ziel, ein Gegennarrativ zu entwerfen. Vielmehr kommt gerade in seiner historisch fundierten kritischen Hinterfragung das besondere Profil von kirchengeschichtlicher Forschung in der Verbindung von ergebnisoffener Geschichtsforschung und theologischem Interesse an der Relevanz des Christentums zum Zuge.
Zum Titel der Studie »Kulturwirkungen des Christentums?« gehört das Fragezeichen in programmatischer Weise. Ohne sorgfältige und methodisch reflektierte Forschung lassen sich bestimmte Kulturwirkungen des Christentums weder geltend machen noch bestreiten. Indem das Buch dies an konkreten Beispielen exemplarisch vorführt, ist es nicht nur ein Beitrag zur Debatte über bestimmte historische Thesen und Theorien, sondern auch ein Beitrag zur theologischen Enzyklopädiedebatte bzw. zur Frage nach der Rolle und Konfiguration von Kirchengeschichte als historischer und theologischer Disziplin. Zudem aber zeigt der historisch-kritische Umgang mit den Fallbeispielen, wie fruchtbar der Dialog zwischen einer die eigene Standortgebundenheit reflektierenden und methodisch kontrollierten Kirchengeschichtsforschung und »allgemeiner« Geschichtsforschung und Kulturgeschichtsschreibung sein kann.

Friederike Nüssel (Heidelberg)

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