Book of the month: April 2021

Dohm, Christian Wilhelm

Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden.

Berlin / Stettin: Friedrich Nicolai 1781; Nachdruck Hildesheim / Zürich / New York: Georg Olms 2013. VIII. 200 S. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-3-487-30109-9.

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Dieses Buch aus der Feder des jungen preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohm fügte der in Deutschland geführten Debatte um die bürgerliche Integration der Juden entscheidende, nachhaltig wirksame Innovationsschübe zu. Der Verfasser war 1751 als Pfarrersohn im ostwestfälischen Lemgo zur Welt gekommen und hatte 1776 am Kasseler Collegium Carolinum die Professur für Finanzwissenschaften und Statistik bezogen. Im Alter von 28 Jahren übersiedelte Dohm, der sich als politischer Schriftsteller der Aufklärung bereits einen Namen gemacht hatte, in die preußische Metropole. Dort versah er zunächst, als Kriegsrat tituliert, das Amt eines Geheimarchivars. Bereits wenige Jahre später begann seine Karriere als preußischer Minister im diplomatischen Dienst. Bald verkehrte er im engsten Kreis der Berliner Aufklärung und beteiligte sich an der Gründung der legendären »Mittwochsgesellschaft«. 1810 zog er sich aus dem aktiven Dienst auf sein Landgut Pustleben bei Nordhausen zurück, wo er zehn Jahre später verstarb.
Den auslösenden Anlass seiner epochalen Schrift erhielt Dohm, der sich schon länger mit der Geschichte des Judentums befasst hatte, von Moses Mendelssohn. Dieser übergab ihm 1780 ein Memorandum der bedrängten Elsässer Judenschaft und bat ihn um redaktionelle Bearbeitung. Wahrscheinlich entschloss sich Dohm daraufhin, die im Elsass aktuell dokumentierte Not der Juden in allgemeiner, grundsätzlicher Weise zu thematisieren. Das Elsässer Memorandum machte er als Anhang seines eigenen, von der gegenwärtigen Forschung zwar oft genannten, aber wenig studierten Buches publik (155–200).
Nun waren seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bereits etliche partielle Reformvorschläge zur gesellschaftlichen Integration der Juden ergangen. Während diese jedoch durchweg den Gestus untertäniger Gnadengesuche gewählt hatten, pochte Dohm erstmals in umfassender Weise auf die Einlösung legitimer Ansprüche der jüdischen Minderheit. Der von ihm angeschlagene Ton bezeugte zwar ebenfalls respektvolle bürgerliche Loyalität, doch was er vortrug, lief unübersehbar auf eine vollständige Annullierung der seinerzeit geltenden Judenedikte hinaus.
Am Anfang und Ende seines Buches appellierte Dohm an das volkswirtschaftlich motivierte »Peuplierungsinteresse« der aufgeklärten Regenten, dem eine unbeschränkte bürgerliche Integration der Juden nur zuträglich sein könne. Der utilitaristische Grundzug, den sein Reformaufruf dadurch gewann, war strategisch bedingt, weil er denjenigen, welche die bestehende Rechtslage zu ändern bereit wären, einen massiven kameralistischen Vorteil versprach. Der gelegentlich erhobene Vorwurf, Dohm lasse theologisch-humanitäre Aspekte ganz außer Acht und stehe der jüdischen Religion in völliger Gleichgültigkeit gegenüber, unterschätzt oder verkennt nur die argumentationsstrategische Klugheit der vorliegenden Schrift.
Auf die alten, stereotypischen Verbrechensanklagen wie Brunnenvergiftung, Ritualmord oder Hostienschändung, mit denen sich die Juden seit Jahrhunderten konfrontiert sahen, ging Dohm gar nicht erst ein. Ihn interessierten allein die aktuellen Vorwürfe, die den Juden betrügerischen Handels- und Wuchergeist sowie notorische Untauglichkeit zum Staats- und Kriegsdienst nachsagten. Solchen Vorurteilen trat er mit pragmatischen Rechtfertigungsargumenten entgegen, insonderheit aber mit dem frontalen Widerspruch gegen das Klischee eines vermeintlichen »jüdischen Nationalcharacters« (96), der mit bürgerlicher Staatsloyalität schlechterdings nicht zu vereinbaren sei. Dieses verhängnisvolle Pauschalressentiment war damals, wie er wusste, nicht allein »bei dem grossen Haufen« (10) lebendig, sondern wurde selbst von so honorigen Aufklärern wie Anton Friedrich Büsching verfochten.
Die zentrale These Dohms, die seine gesamte Darstellung strukturierte, war grundstürzend, weil sie die gängige Schuld- und Kausalitätszuschreibung umkehrte: Die Behauptung, Charakter und Geist des Judentums seien »nun einmal so unglücklich gebildet« (31), basierte für Dohm auf dem entscheidenden Fehler, »daß man für die Ursache angiebt, was vielmehr die Wirkung ist, und daß man das Uebel, welches die bisherige fehlerhafte Politick hervorgebracht hat, zur Rechtfertigung derselben anführt« (33f). »Alles [!], was man den Juden vorwirft, ist durch die politische Verfassung, in der sie itzt leben, bewirkt, und jede andre Menschengattung, in dieselben Umstände versetzt, würde sich sicher eben derselben Vergehungen schuldig machen« (35). Mit der Zuordnung von Grund und Folge kehre sich nun freilich auch die Verantwortlichkeit um: »Wir«, drang Dohm der staatlichen Rechtsprechung ins Gewissen, »wir sind der Vergehungen schuldig, deren wir ihn [i.e. den Juden] anklagen« (39). Diese beschämende Einsicht nicht anzuerkennen und in radikale Reformschritte umzusetzen würde die eigene Schuld potenzieren und wäre, wie Dohm mehrfach betonte, »der Aufklärung unsrer Zeiten unwürdig« (39). Bereits die das Buch präludierende »Vorerinnerung« hatte die Leser unmissverständlich auf diese Grundthese eingestimmt.
Um den Angelpunkt seiner Reformidee, es bräuchten lediglich die politischen und juristischen Verhältnisse geändert werden, dann entfielen die dem Judentum attestierten Absonderlichkeiten von selbst, plausibel zu machen, musste Dohm das pauschale Vorurteil, die jüdische Religion sei mit vorbehaltloser bürgerlicher Loyalität inkompatibel, als haltlos entkräften. Für diesen Beweisgang wählte er einen zweifachen Weg. Zunächst führte er in rational-exegetischer Analyse vor Augen, dass das mosaische Gesetz, dem auch die Christen religiöse Ehrfurcht bezeugten, nirgendwo zu sozialer oder gesellschaftlicher Selbstisolierung verpflichte. Wer das Gegenteil behaupte, kolportiere nur eine Erdichtung, die »verfolgende Priester« sowie »der Pöbel, der sich selbst für erlaubt hält, einen Juden zu hintergehen« (17), aufgebracht hätten. Sodann dokumentierte er in fundierten historischen Exkursen, dass die antike und mittelalterliche Entwicklung des Judentums keine von dieser rationalen Einsicht abweichende Schlussfolgerung zulasse. Insofern bestätige also »die Geschichte [...] das Urtheil der uneingenommenen Vernunft, daß die Juden eben so gut, wie alle andre Menschen, nützliche Glieder der bürgerlichen Gesellschaft seyn können« (45). Im übrigen höben Ausnahmefälle die damit erwiesene Regelhaftigkeit keinesfalls auf.
Nachdem dergestalt die Bedingungen der Möglichkeit einer umfassenden bürgerlichen Emanzipation der Juden dargelegt waren, unterbreitete Dohm einen Katalog von neun konkreten Reformvorschlägen. Diese sind keineswegs willkürlich aneinandergereiht, sondern folgen, was bislang übersehen wurde, einer höchst bedachtsam disponierten Struktur. In rahmender Funktion benennen das erste und letzte Reformbegehren das Leitinteresse: Die Juden »müßten [...] vollkommen gleiche Rechte mit allen übrigen Unterthanen erhalten« (110), man solle ihnen »einen vollkommenen Genuß der Rechte der Menschheit bewilligen« (125). Diese Globalforderung wird durch die anderen Vorschläge spezifiziert. Sie drängen auf unbeschränkt freien Zugang der Juden in die zünftigen Gewerbe, in Landwirtschaft und Warenvertrieb, in die staatlichen Einrichtungen von Kunst und Wissenschaft. Ein weiteres Reformbündel soll die Voraussetzungen einer aufklärungskonformen Integration sicherstellen. Zunächst bedürfe es dazu allgemeinbildender Schulen, die den Juden geöffnet oder auch in deren eigener Initiative installiert werden sollten. Sodann habe man die »Vorurtheile und [...] lieblosen Gesinnungen« der Christen zu überwinden: einerseits dadurch, dass sie bereits »früh in der Jugend« belehrt würden, »die Juden wie ihre Brüder und Mitmenschen zu betrachten«, andererseits durch die volkspädagogische Arbeit der Pfarrer, die den Gemeinden im Sinne von Act 10,35 »die dem Geist der Menschenliebe und des ächten Christenthums so gemäßen Grundsätze« (122f) einprägen sollten. Wie selbstverständlich münden die aufklärerischen Einzelimpulse schließlich in die Forderung nach unbeschränkter jüdischer Kultus- und Religionsfreiheit.
Am Ende vollzog Dohm eine vierfache Refutation. Die Sorgen, eine Integration der Juden würde mit dem Wegfall ihrer Sonderabgaben die Staatseinnahmen vermindern und zudem die christliche Leitkultur einschränken, hielt er für nichtig. Der ökonomische Nachteil, dass den Juden mit der Sabbat- und Sonntagsruhe zwei wöchentliche Arbeitstage verloren gingen, lasse sich abfedern. Und selbst den erheblichsten Einwand, die jüdische Religion untersage den Militärdienst, konnte er mit exegetischen und historischen Gründen sowie mit Auskünften, die er bei zeitgenössischen jüdischen Fachleuten eingeholt hatte, vollständig entkräften.
In der gegenwärtigen Rezeption erfährt Dohm neben aller pflichtschuldigen Anerkennung durchaus auch Kritik. Diese zielt insbesondere auf den vermeintlichen Widerspruch zwischen der Radikalität seines allgemeinen Reformansatzes und der Gradualität seiner konkreten Umsetzungspläne. Tatsächlich annoncierte der Titel seiner Abhandlung nicht etwa eine bürgerliche ‚Gleichstellung‘, sondern lediglich die bürgerliche ‚Verbesserung‘ der Juden. Jedoch wenn Dohm für die vollständige gesellschaftliche Realisierung seiner Reformideen einen Zeitraum von »wenigen Generationen« (145f) ansetzte, den es mit pragmatischen Zwischenschritten zu durchmessen gelte, so beseelte ihn dabei nicht etwa der Geist vormundschaftlicher Administration, vielmehr die nüchterne Einsicht, dass die Erwartung einer schlagartigen Umkehrung der seit Jahrhunderten herrschenden Verhältnisse utopisch wäre und eine gegen vielfältige Widerstände sich durchsetzende geschichtliche Realisierung der Judenemanzipation nur prozesshaft zu verwirklichen sei.
Nachdem die Drucklegung schon begonnen hatte, fügte Dohm seinem Buch noch als »Nachschrift« (151–154) den Hinweis hinzu, er habe soeben aus der Zeitung erfahren, dass Joseph II. ein Toleranzedikt vorbereite, welches den von ihm eingebrachten Reformvorschlägen aufs Schönste entspreche. Eine Inspiration der vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Böhmen, Serbien und Ungarn eingeleiteten Judenpolitik durch die Ideen des preußischen Staatsdieners ist definitiv auszuschließen. Dagegen hat sich die Französische Nationalversammlung von 1790, durch den Comte de Mirabeau und Abbé Gregoire vermittelt, die Anregungen des Berliner Reformers ausdrücklich zu eigen gemacht. Indessen konnte Dohm, als er sein epochales Werk abfasste, von solcher realpolitischen Fernwirkung weder wissen noch träumen.
Friedrich der Große, dem Dohm unmittelbar nach Erscheinen des Buches ein Exemplar zugesandt hatte, quittierte den Empfang mit einer unverbindlichen Höflichkeitsfloskel, ohne sich dadurch in seiner restriktiven Judenpolitik irritieren zu lassen. Gleichwohl initiierte die Publikation in den deutschen Territorien sogleich eine breite, leidenschaftlich geführte, auf Jahrzehnte hinaus anhaltende Debatte, an der viele namhafte christliche und jüdische Exponenten der Aufklärung teilnahmen. Die Zustimmung überwog, manche Kommentatoren suchten den Reformkatalog Dohms zu ergänzen oder zu überholen, unter den wenigen Gegnern stach der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis hervor. Bereits nach zwei Jahren sah sich Dohm veranlasst, seiner Abhandlung einen weiteren Band folgen zu lassen, in welchem er den ursprünglichen Text abermals publizierte, um sich daneben eingehend mit seinen ersten Kritikern auseinanderzusetzen. Nachdem Mendelssohn, der zu den wichtigsten Disputanten gehört hatte, im Januar 1786 gestorben war, fand die Erörterung des durch Dohm angestoßenen Reformbegehrens ihren unverminderten Fortgang. Die preußische »Cabinets-Ordre in Ansehung der Druckschriften wider und für die Juden« vom 1. Oktober 1803 suchte den Dauerdiskurs zu beenden. Zu einem gewissen Abschluss kam es dann aber erst mit dem Edikt vom 11. März 1812, das die Stein-Hardenbergschen Reformen bekrönte, jedoch insofern immer noch weit hinter dem von Dohm einst vorgetragenen Begehren zurückblieb, als es lediglich den ordentlichen Schutzjuden in Preußen die formalrechtliche Gleichstellung garantierte.
Angesichts eines offenbar wieder erstarkenden Antisemitismus in Deutschland mag die Erinnerung an dieses epochale Befriedungsunternehmen, das nicht zufällig dem Zeitalter der Aufklärung entsprang, doppelt willkommen sein.

Albrecht Beutel (Münster/Westf.)

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