Book of the month: March 2021

Kai Strittmatter

Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert.

München: Piper Verlag (Sachbuch) 2020. 336 S. Kart. EUR 12,00. ISBN 9783492316293.

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Alles hat seine Zeit. Das gilt auch für Bücher und die Themen, die sie setzen – zuweilen wie Zeichen an der Wand. So schreibt der in den USA lehrende Oxforder Historiker Niall Ferguson in einem Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung im August 2020: »Wer daran zweifelt, dass China anstrebt, das Imperium 1.0 zu übernehmen und es auf der Grundlage der illiberalen Zivilisation Chinas in das Imperium 2.0 zu verwandeln, lässt all die Wege ausser acht, auf denen diese Strategie umgesetzt wird.«
Ist die Prämisse hinter Fergusons Annahme richtig, dann könnte das Buch Strittmatters über den aktuellen Aufstieg Chinas aktueller kaum sein. Wie ein einschlägiger Architekt erklärt der Autor am einzigartigen Beispiel des Reichs der Mitte, wie man einen digitalen Überwachungsstaat errichtet: Von der Konstruktion und den ersten Bauplänen über die Genese der Bauarbeiten bis zur Inbetriebnahme der digitalen Gebäudetechnik. Und diese gewaltige Bautätigkeit bleibt nicht ohne ethische Konsequenzen für den einzelnen Bewohner. So lernt der Leser, wie »die Partei das Internet lieben lernte« (59–91), mit dem Endergebnis, dass einem der Strafzettel in Shanghais rush hour nicht nur in Echtzeit aufs Handy geschickt wird, sondern man erfährt auf verstörende Weise, welch gravierende Konsequenz die entsprechende Gesichtserkennungssoftware für die eigene social score card bis ins intimste Privatleben hinein zeitigen kann. Liest man danach in der Evangelischen Theologie vielerorts Ausarbeitungen über die Prolegomena einer digitalen Ethik oder gar ganze »Digitalethiken«, so mag man hoffen und gleichzeitig berechtigt zweifeln, dass die ethischen Konsequenzen eines solchen digital-imperalistischen Aufstiegs in Europa überhaupt schon voll angekommen sind.
Strittmatter lässt seine Leser aber nicht nur verstört zurück. Es gelingt ihm im Wege einer digitalen Skizze der chinesischen Sicherheitsarchitektur, seinen Lesern die gravierenden ethischen Konsequenzen dieses digitalen Paradigmenwechsels mehr als nur zeichenhaft nahezubringen:
So beschreibt er, was ein soziales Bonitätssystem aus Menschen macht, indem es diese zu Untertanen degradiert. Eines der stärksten Kapitel trägt den Titel »Wie die Diktatur die Seelen verkrümmt« (198–215) und hält fest: »Einer jeden Autokratie ist an der Zerstörung von Solidarität und Mitgefühl unter den Bürgern gelegen.« (204)
Nun, dies gilt sicher auch für Nordkorea oder Weißrussland. Dennoch arbeitet der Autor als Chinakenner fundiert heraus, warum uns allen diese Entwicklung gerade in einem Land, dass sich als »Reich« wahrnimmt und den eigenen weltpolitischen Ort zentralistisch just »in der Mitte« lokalisiert, alles andere als gleichgültig sein kann.
Denn hat man dieser Neuausrichtung des globalen Kompasses geistig, geistlich wie politisch wenig entgegenzusetzen, wird man von ihr zunächst digital übermannt. Entsprechend konstatiert Ferguson in seinem NZZ-Artikel, dass das just vergehende, anglo-amerikanische geprägte »Imperium 1.0« durch wirtschaftliche Ungleichheit, »ineffiziente Staatsführung und dazu Dekadenz und Nihilismus« derart durchlöchert wird, dass es einem digitalen Imperium 2.0 von Seiten Chinas wenig entgegenzusetzen habe. Was das im Alltag zunächst in China und in der Folge für den Rest der Welt bedeuten kann, skizziert Strittmatter gekonnt als langjähriger Chinakorrespondent der Süddeutschen Zeitung.
Das Problembewusstsein für bevorstehende Entwicklungen erarbeitet Strittmatter dabei nicht alarmistisch, sondern analytisch vertieft wie lesenswert heraus. Ein Buch mit Zukunft.

Nils Ole Oermann (Lüneburg)

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