Book of the month: October 2020

Günter Stemberger

Judaica Minora

Teil I: Biblische Traditionen im rabbinischen Judentum. Tübingen: Mohr Siebeck 2010. VIII, 560 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 133. Lw. EUR 154,00. ISBN 978-3-16-150403-7; Judaica Minora. Teil II: Geschichte und Literatur des rabbinischen Judentums. Tübingen: Mohr Siebeck 2010. IX, 787 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 138. Lw. EUR 219,00. ISBN 978-3-16-150571-3.

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Die rabbinische Literatur, die in den Jahrhunderten nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. entstanden ist, kann mit einer Kaktusfrucht verglichen werden. Denn auf den ersten Blick wirken diese Überlieferungen, die auf vielen hundert Seiten in Talmud und Midrasch tradiert werden, unzugänglich und sperrig. Es beginnt damit, dass man zunächst lernen muss, wie die Stellenangaben aufzufinden sind, und selbst wenn man die sprachlichen Hürden des unpunktierten Hebräisch und Aramäisch meistert, so erfordern die Texte mit der ihnen eigenen Hermeneutik, den komplexen Argumentationen und Rückbezügen auf die biblische Überlieferung doch viel Zeit und Mühe zur Erschließung. Wer jedoch die beiden Aufsatzsammlungen der »Judaica Minora« des Wiener Judaisten Günter Stemberger aufschlägt und in den hier versammelten Beiträge liest, vermag von diesen Unwägbarkeiten nichts mehr zu spüren.
Die beiden Bände versammeln mehr als 60, meist deutschsprachige Aufsätze, die Günter Stemberger in den Jahren 1998–2010 veröffentlicht hat und die davor weit verstreut in Festschriften, Sammelwerken und Zeitschriften publiziert wurden. Band I »Biblische Traditionen im rabbinischen Judentum« stellt Aufsätze zusammen, die ihren Blick auf die Tora im weitesten Sinne richten und um das rabbinische Verständnis der Tora, ihre Stellung im jüdischen Leben, die Frage nach dem Kanon und die spezifisch rabbinischen Hermeneutik sowie der narrativen Theologie im Midrasch kreisen. Weitere Arbeiten fragen konkreter nach der Rezeption einzelner biblischer Motive und Texte (u.a. Dekalog, Propheten und Prophetie, Danielbuch, Psalmen, Megillot oder Hoheslied). Eine weitere Gruppe von Aufsätzen stellt die rabbinischen Überlieferungen in einen größeren religionsgeschichtlichen Kontext und zeigt Verbindungslinien zum religiösen Symbolsystem der Spätzeit des Zweiten Tempels auf. Wichtige Themen sind hier das Priestertum oder die Vorstellung einer himmlischen Liturgie. Eine letzte Gruppe von Aufsätzen fokussiert auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf die Auslegung der Bibel in Judentum und Christentum. Hier holt der Verfasser weit aus, insofern er auch die jüdisch-christlichen Disputationen des Mittelalters, die um die Messiasfrage kreisen, in zwei Aufsätzen thematisiert. Ein letzter Beitrag des Bandes befasst sich mit der Frage nach Gemeinsamkeiten und gegenseitigen Lernpotentialen von Judaistik und neutestamentlicher Forschung. Band II »Geschichte und Literatur des rabbinischen Judentums« widmet sich der Geschichte der Juden in vorislamischer Zeit, wobei das Verhältnis von Juden und Christen im Vordergrund steht. Auch theologische Themen wie die Bedeutung des Gebets bei den Rabbinen oder das rabbinische Verständnis von Verdienst und Lohn werden hier behandelt. Neben Studien zu Methodenfragen und zu einzelnen rabbinischen Überlieferungen und ihrer Redaktionsgeschichte enthält dieser Band schließlich auch mehrere Arbeiten zur Forschungsgeschichte der rabbinischen Literatur, die das spezifische Profil einzelner Gelehrter wie J. J. Rabe, L. Zunz und H. L. Strack deutlich zu Tage treten lassen und zudem auch einen Überblick über die rabbinische Forschung seit 1945 geben.
Bereits dieser nüchterne, listenhafte Überblick lässt den Reichtum dieser Sammlung erahnen. Mit klaren Worten vermag der Autor die nicht zu überschätzende Bedeutung der Tora für die rabbinische Welt zu erschließen: Bestehend aus der mündlichen und der schriftlichen Tora (d. h. den fünf Mosebüchern und ihrer Auslegung in Talmud und Midrasch) ist sie sowohl »genau umgrenzt und doch unendlich« (Bd. I, 1). Auch wenn die Offenbarung der Tora mit einem für die biblische und rabbinische Welt geschichtlichen Datum verbunden wird, nämlich mit Mose und dem Sinai beim Auszug des Volkes aus Ägypten, so eignet der Tora doch ein geradezu überzeitliches Wesen an, insofern sie bereits vor der Weltschöpfung erschaffen wurde. Als Bauplan für Gottes Schöpfung stellt sie eine Art Weltgesetz dar. Trotz dieser universalen Dimension ist sie aber doch nur dem Volk Israel verliehen worden, und insbesondere die mündliche Tora ist ein Mysterium, das allein Israel vorbehalten ist. Wegen der Schwäche der Menschen steht die Tora aber auch immer in Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Da man auf eine neue Offenbarung nicht mehr hoffen kann, kommt ihrer Auslegung, also der Arbeit an der mündlichen Tora, eine ganz besondere Bedeutung zu. Von diesen basalen Einsichten aus eröffnen sich wichtige Linien zu anderen Themen und Aufsätzen, die sich wie ein Netz über die beiden Bände spannen und die einzelnen Beiträge immer wieder miteinander in Beziehung treten lassen. Aus der Aufgabe einer ständigen Beschäftigung mit der Tora ergibt sich die geradezu logische Konsequenz, dass dem Lernen im Judentum ein so hoher Stellenwert eingeräumt wird. So fügen sich die einzelnen Arbeiten, die sich mit der Toraerziehung in der rabbinischen Zeit oder mit dem Torastudium von Kindern beschäftigen, bestens in das Gesamtbild ein. Dabei wird deutlich, dass die elementare Unterweisung in der Tora zunächst eine Pflicht des Vaters gegenüber seinem Sohn darstellte. Eine Unterweisung von Mädchen ist aber nicht gänzlich auszuschließen. Die überzeitliche Qualität der Tora impliziert auch hermeneutische Konsequenzen, insofern jüdische Bibelauslegung letztlich von der Einheit des Textes ausgeht, in dem alles mit allem verbunden ist und jeder Schriftvers den anderen zu erklären und zu erhellen vermag. Sie begründet auch die besondere Bedeutung des Hebräischen als heiliger Sprache: »Wenn Sprache und Wort präexistent sind, sind sie auch wirklicher als alles Geschaffene, wirklicher als das, was sie bezeichnen und ausdrücken. Wenn die ideale Sprache vor aller Zeit existierte, ist sie auch nicht Veränderungen in der Zeit ausgesetzt, sondern birgt von Anfang an in sich alle Möglichkeiten späterer Entwicklung« (Bd. I, 90). Die Tora wird damit eigentlich unübersetzbar – eine wichtige Einsicht, die sich insbesondere in der Bewertung der Septuaginta niedergeschlagen hat, die von den Rabbinen als ein Unglück bewertet wurde, dessen Ausmaß der Herstellung des Goldenen Kalbs gleichkam. Elementar für das Verständnis des rabbinischen Judentums sind auch Günter Stembergers Ausführungen zu den Reaktionen auf die Tempelzerstörung in der rabbinischen Literatur. Deutlich wird die Dynamik, mit welcher die Rabbinen diese Katastrophe (die letztlich aber auch die Geburtsstunde des Rabbinats war) verarbeiteten. Die frühen Texte wie Mischna und Tosefta halten das Thema eher im Hintergrund; sie bezeugen die Bemühungen, Regelungen für einen praktischen Ersatz des Tempels aufzustellen und jeglichen menschlichen Aktivismus zurückzudrängen. In späteren Texten, wie dem Jerusalemer Talmud oder den etwa gleichzeitig entstandenen Midraschim, finden sich Reflexionen über den Grund des Geschehens, die – wie bereits als Deutungsmuster für Katastrophen in der biblischen Tradition vorgegeben – auf die Schuld des Volkes und die Strafe Gottes verweisen. Trotz des Schmerzes, der hier zum Ausdruck kommt, finden sich keine Hinweise auf Kräfte, die auf einen Wiederaufbau des Tempels drängten.
Eine gänzlich andere Sicht formulieren die Apokalypsen und Piyyutim des 7. Jh.s, in denen ein endzeitlicher Tempel erhofft wird, der nun wunderhaft vom Himmel herab schweben soll; er ist aber nicht mehr Stätte des Opferns, sondern vielmehr »Symbol der Gegenwart Gottes« (Bd. II, 653).
Es ist hier nicht der Ort, weitere Inhalte der einzelnen Beiträge wiederzugeben, findet sich hier doch Stoff für eine Religionsgeschichte des antiken Judentums! All diese Ausführungen sind, das sei hier hinzugefügt, nicht nur für das Verständnis des Judentums in der Spätantike bedeutsam, sie prägen das traditionelle Judentum sowie die moderne jüdische Philosophie und das jüdisch Sprachdenken bis in die Gegenwart.
Die hier versammelten Arbeiten sind auch in interdisziplinärer Hinsicht bedeutsam. Da die meisten rabbinischen Texte Jahrhunderte später als das neutestamentliche Schrifttum entstanden sind, werfen offensichtliche Bezüge zum Neuen Testament methodologische Fragen auf und es ist hier besondere Vorsicht im Hinblick auf einen direkten Vergleich geboten. Interessant als Vergleichsmaterial für die rabbinischen Überlieferungen sind vielmehr die patristischen Texte, die mehr oder weniger zeitgleich mit diesen entstanden sind. Sehr eindrücklich sind die Darlegungen des Autors zu den jüdisch-christlichen Kontakten in Palästina in der byzantinischen Zeit, die deutlich machen, wie differenziert sich diese insgesamt gestalteten und dass hier im Hinblick auf das Zusammenleben von Juden und Christen in Palästina auch mit lokalen Unterschieden gerechnet werden muss.
Auch wenn manche der Aufsätze bereits vor über 20 Jahren entstanden sind, so sind die hier dargelegten Erkenntnisse doch nach wie vor bedeutsam. Vieles, was Günter Stemberger ausführt, hat zwischenzeitlich konstruktiv weiter in die Forschung hineingewirkt. Dies gilt – auch hier kann nur Exemplarisches angeführt werden – für den Beitrag »Entstehung und Auffassung des Kanons im rabbinischen Denken« (Bd. I, 69–87), in dem der Autor deutlich macht, dass für die rabbinische Zeit bereits mit einem abgeschlossenen Bibelkanon zu rechnen ist. Auch die Thematik der Kontinuität bzw. Diskontinuität zwischen dem Judentum vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n.Chr. und der Zeit danach, die der Autor in unterschiedlichen Beiträgen anhand einzelner Motive behandelt, wird zwischenzeitlich intensiv diskutiert (so z.B. R. Daniel / Z. Weiss [eds.] in Zusammenarbeit mit R.A. Clements, Was 70 CE a Watershed in Jewish History? On Jews and Judaism before and after the Destruction of the Second Temple, Ancient Judaism and Early Christianity 78, Leiden/Boston: Brill 2012). Dies gilt schließlich – um nur noch ein Beispiel zu nennen – auch für das Thema der spätrabbinischen Dämonologie, das der Autor in seinem Beitrag »Samael und Uzza. Zur Rolle der Dämonen im späten Midrasch« (Bd. II, 602–624) behandelt.
In seinem Beitrag »Rabbinische Forschung im deutschen Sprachbereich nach 1945« (Bd, II, 721–738), der im Jahre 2000 erstmals publiziert wurde, kann Günter Stemberger formulieren, dass »abgesehen von Israel und gewissen Institutionen in den Vereinigten Staaten nirgends sonst im Rahmen judaistischer Studien der Schwerpunkt der rabbinischen Literatur so intensiv und selbstverständlich in der Forschung und Lehre wie im deutschen Sprachbereich gepflegt wird.« Trotz der Tendenz, »von den alten und sprachintensiven Texten weg die Akzente eher auf gegenwartsrelevante Fragen zu verschieben, und trotz entsprechender Verschiebungen in den Studienplänen bleibt doch zu hoffen, dass die rabbinische Literatur – gerade auch wegen ihrer Bedeutung für alle späteren Formen jüdischen Lebens und Denkens – ihren Platz in Studium und Forschung behalten wird« (Bd. II, 738). Diese Sätze sind nunmehr 20 Jahre alt, und zwischenzeitlich ist es in Deutschland stiller geworden im Hinblick auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit der rabbinischen Literatur. Vor diesem Hintergrund ist die Hoffnung, die der Autor im Hinblick auf die Rolle der Rabbinistik in der deutschsprachigen Forschungslandschaft besonders zu unterstreichen. Diesen Worten ist an diese Stelle nichts hinzuzufügen, außer dass man den »Judaica Minora« (welch Understatement!) auch einer Dekade nach ihrem Erscheinen viele Leserinnen und Leser wünscht.

Beate Ego (Bochum)

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