Book of the month: September 2020

Alexander Dietz, Jan Dochhorn, Axel Bernd Kunze und Ludger Schwienhorst-Schönberger

Wiederentdeckung des Staates in der Theologie

Evangelische Verlagsanstalt: Leipzig 2020. 264 S. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-374-06636-0

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Gehört es zu den Kernaufgaben der Kirchen, sich aktiv an Seenotrettung zu beteiligen? Oder übernehmen derlei Aufgaben statt der Kirchen besser »der Nationalstaat und sein Gewaltmonopol«, so wie es im Geleitwort des Buches des Monats postuliert wird? Sind Religionsgemeinschaften parteipolitisch derzeit allzu einseitig aufgestellt, oder müssen sie aus ethischer Sicht beinahe zwangsläufig parteiisch sein? Was ist aktuell »des Staates« und was eben nicht nur?
Die Stärke des vorgelegten Buches von Alexander Dietz und seinen Mitautoren liegt darin begründet, dass in Blick auf all diese höchst aktuellen Fragen höchst aktuelle theologische – exegetische wie ethische – Analysen präsentiert werden, aber eben keine vorgefertigten Antworten. Der Ökonom John Kenneth Galbraith attestierte seinem Kollegen und Widerpart Milton Friedman einmal, dass dieser mit einer Vielzahl von Gaben gesegnet sei, nur eine fehle: die Gabe des Vielleicht. Exakt das durchgängige Vorhandensein dieser Gabe macht die »Wiederentdeckung des Staates in der Theologie« lesenswert: Sicherlich sei das Verhältnis von Kirche und Staat im 20. Jahrhundert in Deutschland oft zu unkritisch angelegt gewesen, aber vielleicht seien die aktuellen Positionierungen der Kirchen in Deutschland ebenso ein Ausdruck von einseitiger Kritiklosigkeit und mangelndem Verständnis der jeweiligen propria von Staat und Kirche, ja vielleicht Ausdruck theologischer »Staatsvergessenheit« oder gar »Staatsverachtung« (A. Dietz, 29.31 ff.)?
Sollten »Nachbarstaaten sanktioniert werden, die ihre Grenzen nicht öffnen wollen?« (13). Oder ist diese Entscheidungsfreiheit vielleicht bewusst gewollt und damit legitim? Oder gibt es in aktuellen Diskursen vielleicht nicht nur machtpolitische, sondern auch ohnmachtspolitische Instrumentalisierungen des Kreuzes? (87)
Das Buch wendet sich an jene theologisch wie nicht-theologisch versierte Leserinnen und Leser (oder vielleicht auch Leser*innen?), die sich in den aktuellen theologisch-politischen Diskursen zur aktuellen und künftigen Rolle des Staates als Gemeinwesen nicht mit vorgefertigten, unreflektierten Antworten zufriedengeben, sondern die alte Frage nach dem, was des Kaisers und was Gottes ist, immer wieder neu stellen oder diskutieren möchten. So ist die Exegese von Römer 13,1–7 vom Exegeten Jan Dochhorn besonders lesenswert (103-136), wie auch die Frage, wie der Rechtsstaat verstanden werden will, als bildungsethisches Problem pointiert vom Pädagogen Axel Bernd Kunze analysiert wird (137–175).
Seinen Reiz gewinnt das Buch vielleicht gerade daraus, dass es aktuell Fragen zu stellen wagt, die im ohnmächtig-dröhenden Exkurs mancher amtskirchlicher und oder staatlicher Vertreter allzu lange allzu wenig Raum gefunden haben. Die formulierten Thesen des Buches zur Neuausrichtung des Verhältnisses von Staat und Kirche muss man dabei nicht immer teilen, aber sie schärfen das eigene Nachdenken und dabei die Gabe des »Vielleicht«. Vielleicht nicht das Schlechteste, und ganz sicher nicht wenig!

Nils Ole Oermann (Lüneburg)

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