Buch des Monats: Juli/August 2020

Jan Christian Gertz

Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1–11. Übersetzt und erklärt von Jan Christian Gertz. Das Alte Testament Deutsch. Neues Göttinger Bibelwerk, Band 1 (Neubearbeitung)

Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2018. XXVII + 348 S. Geb. EUR 80,00. PDF e-book EUR 64,99. 24,5 x 16,5 cm. ISBN 987-3-525-57055-5

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Der von dem Heidelberger Alttestamentler Jan Christian Gertz vorgelegte Kommentar zur biblischen Urgeschichte Gen 1–11 hat vermutlich das Zeug, zu einem ähnlichen »Klassiker« der Genesisauslegung zu werden wie sein Vorgänger in der Reihe »Altes Testament Deutsch“ (1949, 91972). Gerhard von Rad hatte seinerzeit auf 350 Seiten das ganze Buch Genesis behandelt, während Gertz denselben Umfang allein für die Urgeschichte benötigt und dabei trotzdem auf das Wesentliche konzentriert bleibt. Die Forschung hat seit von Rads Genesis’ nicht nur exponentiell zugenommen, sondern sie ist in ihrer Diversität selbst für Fachleute bisweilen schwer zu überblicken. Ein aktueller exegetischer Kommentar zu einem so zentralen biblischen Bereich wie Gen 1–11 hat deshalb immer auch die Aufgabe, nicht nur eine interessierte Öffentlichkeit, sondern auch die Theologie und ihre Nachbarwissenschaften zu informieren und zu orientieren. Beides gelingt dem Kommentar vorzüglich.
Gertz hat eine überzeugende Synthese zwischen der Darstellung des Forschungsstands und seiner eigenen Sicht vorgelegt. Der Band vereinigt genau das, was Lehrende des Faches Altes Testament heutzutage anstreben: Große Klarheit in der Darlegung der Gründe für ein Modell des Textwachstums, aufgrund einer direkt nachvollziehbaren Darstellung am biblischen Text. Jedem, der mit der langen Rezeptionsgeschichte des sog. »Sündenfalls« oder der Gottebenbildlichkeit des Menschen in Grundzügen vertraut ist, wird einleuchten, welche Leistung es darstellt, die inhaltliche Komplexität von Gen 1–11 so zu präsentieren, dass man nie den Überblick verliert und zugleich genügend Details mitgeteilt bekommt. Man merkt dem Kommentar an, dass er nicht mit schneller Nadel gestrickt, sondern lange und unter sorgfältiger Abwägung der Alternativen erarbeitet wurde. Insofern hat die hier vertretene Sicht auch eine wegweisende Funktion für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen religiösen und kulturellen Grundtexten.
Auf 25 Seiten führt zunächst die »Einleitung« in Gliederung und Abgrenzung der biblischen Urgeschichte, in die Fragen der Entstehung, die dazu bisher vertretenen Positionen und in die Sichtweise des Autors ein. Am Ende der Einführung skizziert ein kenntnisreicher Abschnitt den Kontext der altorientalischen Literaturen (v. a. Mesoptamiens), ohne den Gen 1–11 nicht verstanden werden kann.
Der Standpunkt des Kommentars, wie er in der Einleitung entwickelt – und durch die Kommentierung begründet wird – lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Schon der Blick auf die thematische Struktur und auf den narrativen Bogen von Gen 1–11 zeigt, dass es sich um eine relativ in sich geschlossene literarische Einheit handelt. Zugleich weisen die berühmten Doppelungen (beginnend mit der zweifachen Schöpfungserzählung in Gen 1–3, besonders deutlich im Sintflutabschnit Gen 6–9) darauf hin, dass man es mit unterschiedlichen Versionen des urgeschichtlichen Geschehens zu tun hat – eine alte Erkenntnis der Pentateuchanalyse. Gertz’ eigene im Kontext der gegenwärtigen Debatte entwickelte Entstehungshypothese beruht dabei auf drei Annahmen:
a) Am unstrittigsten ist die Abgrenzung der priesterschriftlichen Darstellung, die ab dem 6. Jh. v.Chr. datiert wird und in Gen 1–11 wie eine eigenständige Quelle erscheint (Gertz folgt der Ansicht, dass »P« nicht zwingend über Kenntnisse des älteren Erzählfadens verfügte).
b) Als Ausgangspunkt für die Beurteilung des zweiten Erzählzusammenhangs, der heute zumeist nicht mehr als »jahwistisch«, sondern neutral als „nicht-priesterlich“ bezeichnet wird, dient die besonders durch F. Crüsemann herausgestellte rein interne thematische Vernetzung ohne Verweise etwa auf die folgenden Erzelterngeschichten (signifikant anders als von Rad).
c) Am stärksten betritt der Kommentar in der näheren Charakterisierung der nicht-priesterlichen Darstellung Neuland: Für Gertz handelt es sich bei diesem, ursprünglich von der Schöpfung bis zur Flut (Gen 2,4b–Gen 8,22) reichenden Erzählfaden um eine judäische Adaption mesopotamischer Stoffe. Sie datiert Gertz in die Zeit der assyrischen Oberherrschaft in Juda, genauer in deren zweite Hälfte (7. Jh.: Zeit Manasses). Damals kann man für die Ausbildung der intellektuellen Eliten in Jerusalem eine Kenntnis der Stoffe und – im Fall der Flutmythen – sogar direkte Textkenntnis keilschriftlicher Vorbilder annehmen (16.20f.). Einleuchtend verweist der Kommentar für diese erste biblische Urgeschichte, die fast die ganze Textsubstanz von Gen 2–8* (Nicht-P) umfasst habe, darauf, dass in ihr weder spätweisheitliche Züge noch eine dtn.–dtr. Schuld- und Straftheologie sichtbar werden, wohl aber die Kenntnis vorexilischer Unheilsprophetie (17). Anders als z.B. von E. Otto oder A. Schüle vermutet, gehören deshalb auch Züge wie die Erschaffung des Menschen aus „Staub“ oder die pessimistische Anthropologie des nicht-priesterlichen Flutprologs und -epilogs nicht nachpriesterlichen Redaktionen zu, sondern sind Teil der ältesten Urgeschichte. Diese erhält dadurch ein theologiegeschichtlich komplexes Profil, das gut in der zweiten Hälfte des 7. Jh.s vorstellbar ist: »Im Wesentlichen handelt es sich um eine Geschichte der Krise und ihrer Überwindung sowie eine Beschreibung der ambivalent wahrgenommenen Erfahrungswirklichkeit als Folge schuldhafter Daseinsminderungen. Diese Geschichte setzt mit der wider den Willen des Schöpfergottes erlangten Fähigkeit des Menschen ein, sich zwischen dem Lebensfeindlichen und dem Lebensförderlichen zu entscheiden.« (15) Auch die oft im Anschluss an C. Levin vertretene Aufteilung in eine ältere positive Kulturätiologie mit späterer schuldtheologischer Überarbeitung erscheint unnötig. Die nachpriesterlichen redaktionellen Bestandteile von Gen 1–11 fallen bei Gertz insofern weniger umfangreich aus (18). Zwar verdankt sich der überlieferte Text einer Zusammenarbeitung von »P« und »Nicht-P«, die Einschreibungen in den weisheitlichen Erzähler waren aber je punktuell; größere Einfügungen bilden nach Gertz lediglich Gen 6,1–4 (Engelehen), größere Anteile von 9,18–27 (Noah und seine Söhne) und 10,8–30 sowie die Turmbauerzählung 11,1–9.
Für jede dieser Annahmen vermag die folgende, in flüssig lesbarer Sprache präsentierte Einzelkommentierung Begründungen zu geben. Die umfangreichsten Darlegungen finden sich nicht zufällig zu Gen 1,1–2,4a, dem Schöpfungsbericht der Priesterschrift, und zur Paradieserzählung Gen 2,4–3,24 des weisheitlichen Erzählers (26–149). Die Eigenart von Gen 1 wird von Gertz – auch darin innovativ – in ihrem reflektierten und rationalisierenden Zugriff auf antike mythische Stoffe zur Weltenstehung als in »Wissenschaftsprosa« verfasst beschrieben (78). Gemeint ist damit die Teilhabe an kulturübergreifenden kosmologischen Diskursen wie sie zeitgleich am deutlichsten in der ionischen Naturphilosophie greifbar werden. Dieser möglichweise durch Gertz auch etwas überbetonte Aspekt an den Intentionen der „P“ dient ihm in seinem Nachwort zu Gen 1 (77–79) als Folie, um von dort aus fundamentalistische Lesarten des Kreationismus oder eines »Intelligent Design« zurückzuweisen: »P« sei »aufgeklärter« als viele seiner modernen Kritiker gewesen. Es zeichnet den vorliegenden Kommentar aus, dass er immer wieder – etwa in den forschungsgeschichtlichen Skizzen (vgl. den Exkurs zum Dominium terrae, S. 70–72) – en passant, aber stets bedenkenswert und ausgewogen auf moderne theologisch-hermeneutische Fragen zu sprechen kommt. So explizit auch in der ebenso konzisen wie korrekten Nachbemerkung zum Verständnis der Sünde in Gen 2–4 (173 f.). Gertz betont hier zu Recht, dass die Paradieserzählung eben keinen „Sündenfall“ erzählt – schon, weil die entsprechende Begrifflichkeit fehlt – eine den Exegeten vertraute Tatsache, die aber manchen interessierten Lesern neu sein dürfte: »Die Sünde ist dem Menschen weder wesenhaft eigen noch angeboren, sie ist ihm aber als Gefährdung seiner Entscheidung zwischen gut und schlecht unmittelbar nahe.« (174)
Alles in allem, das können diese wenigen Beispiele nur andeuten, lohnt die Lektüre des neuen ATD-Kommentars zur biblischen Urgeschichte auf jeder Seite. Er enthält nichts Überflüssiges und vermittelt den Lesenden immer einen differenzierten und gut nachvollziehbaren Zugang zu den Forschungsergebnissen und vor allem den Inhalten dieser wirkungsmächtigen Texte. Er sei jedem an der wissenschaftlichen Theologie und am biblischen Text Interessierten wärmstens zur Lektüre empfohlen.

Friedhelm Hartenstein (München)

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