Buch des Monats: April 2018

Plickert, Philip [Hrsg.]

Merkel. Eine kritische Bilanz.

München: FinanzBuch Verlag (Münchner Verlagsgruppe) 2017. 256 S. Geb. EUR 19,99. ISBN 978-3-95972-065-6.

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»Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde«. – So ist das auch mit den Amtszeiten der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. In diesem Geist eröffnen in dem von FAZ-Wirtschaftsredakteur Philip Plickert herausgegebenen Band »Merkel. Eine kritische Bilanz« so unterschiedliche Autoren wie David Marsh und Christopher Caldwell, Necla Kelek und Rafael Seligmann, Justus Haucap und Roland Tichy, Michael Wolffsohn und Norbert Bolz ihre ganz unterschiedliche Sicht auf die Regierungszeit der ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland.
Eines eint sie: Anders als das politische Feuilleton fokussieren sich die deutlich tiefer schürfenden Autoren weniger auf die Verdienste von drei Amtszeiten als auf eine bilanzierende Fehleranalyse, die sich nicht nur anhand von schlaglichtartigen Stichworten wie »Flüchtlingskrise« oder »Energiewende« immer wieder an folgender Leitfrage abarbeitet: »Wer ist und vor allem: Was treibt eine Frau, die über Nacht Entscheidungen trifft, die ein Land auf Jahrzehnte verändern?«
Freilich gilt: »Wer aus dem Rathaus rauskommt, ist immer schlauer.« Aber das wird der Analysetiefe nicht gerecht, die die 22 Beiträge von Professoren und Publizisten erreichen. Alle Autoren registrieren, dass man nicht über 15 Jahre an der Spitze dieses Landes steht, weil man nur Glück gepaart mit politischem Fingerspitzengefühl hatte. Angela Merkel ist in der Tat ein »politisches Phänomen« – das ist auch den schärfsten Merkel-Kritikern klar und macht die Kanzlerin noch zu Amtszeiten immer stärker auch zum Gegenstand politologischer Forschung.
Die vorgelegte Kritik der genannten Autoren des Bandes ist strukturiert und gleichzeitig gut lesbar: »Anspruch« und »Wirklichkeit«, das sind die Kategorien, in denen die Autoren fast durchgehend bilanzieren. Statt denkende Menschen als Wähler medial mit Gefühlen weichzuspülen, gelingt hier fast durchgängig die analytisch so notwendige wie wohltuende Trennung von Sachverhalt und Wertung: So gelangt Cora Stephan zu ihrer These, Angela Merkel habe im entscheidenden Moment der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 eben nicht beherzt gehandelt, sondern sich im Ergebnis weggeduckt, durch eine klare Differenzierung der Begriffe »Tun« und »Unterlassen«: Viele Menschen meinen, dass jemand, der etwas nicht tut, im Ergebnis auch nicht handelt. Das ist falsch: Wem eine absehbare Krise ohne krisenfesten Plan in der Tasche immer weiter eskaliert, der handelt und eskaliert durch eigenes Unterlassen. Und wer den Weg zu dieser Eskalation nicht etwa anklagend oder gar besserwisserisch, sondern fair und ausgewogen analysiert, indem er auf ignorierte Warnungen oder absehbar scheiternde »Deals« mit der Türkei auf Grundlage eines sauber nachvollzogenen Sachverhalts verweist, dessen Urteil ist umso gravierender – eben weil man nach der Lektüre nicht umhin kommt, die entwickelten Argumente ernst zu nehmen, statt diese politisch zu skandalisieren wie auf dem Höhepunkt der »Willkommenskultur«.
Alles hat seine Zeit, aber wer mit der Zeit geht, wird schnell Witwer. Intellekt ist hingegen genauso zeitlos wie politische Urteilsfähigkeit.

Nils Ole Oermann (Lüneburg)

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