Buch des Monats: September 2016

Florian Wilk [Hrsg.]

Das Vaterunser in seinen antiken Kontexten. Zum Gedenken an Eduard Lohse.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 199 S m. 3 Abb. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten Testaments, 266. Kart. EUR 65,00. ISBN 978-3-647-54052-8.

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Am 20. Februar 2014 feierte Eduard Lohse, Göttinger Neutestamentler, Hannoverscher Landesbischof und langjähriger Ratsvorsitzender der EKD, seinen 90. Geburtstag. Unvergesslich bleibt jedem, der es erlebt hat, wie der hohe Jubilar seinerzeit am Ende eines Symposiums zu seinen Ehren die Substanz der sechs Fachvorträge, die er unmittelbar zuvor gehört hatte, aus dem Stegreif zusammenfasste und mit eigenen Kommentaren versah, zustimmenden wie kritischen. Im Juni 2015 ist Eduard Lohse gestorben. Im Rahmen einer Akademischen Gedenkveranstaltung der Georg-August-Universität Göttingen, deren Rektor er in den Jahren 1970/71 war, konnte im Februar 2016 die Publikation der Beiträge des Symposiums zu seinem 90. Geburtstag vorgelegt werden.
Der Band stellt, unabhängig von dem Anlass, zu dem er entstand und publiziert wurde, ein schönes Beispiel neutestamentlicher Wissenschaft dar, wie sie gegenwärtig an deutschsprachigen evangelisch-theologischen Fakultäten und Instituten getrieben wird. Der Gegenstand ist zentral wie wenige andere: das Vaterunser als Kerntext der christlichen Überlieferung, mit einer Ausstrahlung, die auch heute noch weit über die Grenzen der Fachtheologie, zum Teil selbst über die der Kirchen hinausreicht. Die methodischen Zugänge sind plural, mit gewissen Schwerpunkten bei religions- und literaturgeschichtlichen Ansätzen. Im Zuge der exegetischen Analysen erschließt sich, bei unterschiedlichen Interessenschwerpunkten und Akzentsetzungen der Autoren im Einzelnen, doch durchweg die wurzelhafte Verbindung des Herrengebets mit seinen biblisch-jüdischen Kontexten. Der Horizont der Interpretationen überschreitet programmatisch die Grenzen des neutestamentlichen Kanons. Die Auswertung und Dokumentation der einschlägigen Spezialforschung spiegelt die internationale Fachdiskussion. Alle Autoren sind deutlich jünger als der Geehrte und lassen sich drei verschiedenen Alterskohorten zuweisen (Geburtsjahrgänge zwischen 1940 und 1962).
Jörg Frey beleuchtet die antik-jüdischen Hintergründe frühchristlicher Gebetstraditionen unter besonderer Berücksichtigung der Texte von Toten Meer und kann damit an eine der vielen Publikationen von Eduard Lohse aus der Zeit nach seinem Bischofsdienst anknüpfen (Das Vaterunser – im Licht seiner jüdischen Voraussetzungen, Tübingen 2008). Dabei geht er auch auf neueste Untersuchungen zum Aramäischen ein, der Sprache Jesu, die durch die Qumran-Texte in neuer Beleuchtung erscheint. Reinhard Feldmeier stellt das Vaterunser in den Kontext paganer Gebetsliteratur und erschließt damit unter Heranziehung einer großen Fülle von Belegen aus der Alltagsreligion der griechisch-römischen Welt eine Außenperspektive auf ein christliches Hauptgebet, die im Zuge seiner Rezeptionsgeschichte im antiken Christentum bald zur Innenperspektive wurde.
Florian Wilk analysiert die literarische und vorliterarische Jesusüberlieferung zum Vaterunser und stößt dabei vor bis zur Gebetspraxis Jesu und zu seinen Weisungen zum Beten an seine Jünger. Peter von der Osten-Sacken betrachtet das Vaterunser als Zugang zum Matthäusevangelium und widmet sich dabei besonders der Vergebungsbitte, an der er zeigen kann, dass dieses Evangelium „eine besondere Nähe zum Judentum aufweist“ (115). Michael Wolter wendet sich der lukanischen Fassung des Vaterunsers zu und interpretiert sie mit Hilfe ihres literarischen Kontextes und in sorgfältigem Vergleich mit der matthäischen Fassung als exemplarisches Jüngergebet für die Zeit der leiblichen Abwesenheit ihres Herrn. Jürgen Wehnert schließlich untersucht das Vaterunser in der Didache und erschließt dessen Wortlaut als eigenständigen Zugang zum Herrengebet, der seinem heutigen liturgischen Gebrauch als Ausdruck persönlicher Frömmigkeit und Gebet für alle christlichen Gemeinden am nächsten kommt.
Das Buch eignet sich bestens als Arbeitsgrundlage für neutestamentliche Hauptseminare. Es erschließt die religiösen, kulturellen und literarischen Räume, in denen Jesus lebte und sich das früheste Christentum herausbildete. Mit dem Thema Gebet wendet es sich einem Lebensbereich des christlichen Glaubens zu, der an sein Zentrum rührt: der lebendigen Kommunikation mit Gott, deren Reflexion der wissenschaftlichen Theologie in ihrem ‚Alltagsgeschäft’ aufgetragen ist. An einem exemplarischen Textbeispiel führt der Band die Komplexität der biblischen Überlieferung vor Augen, der nur mit einem Set von historischen, literaturgeschichtlichen, religions- und kulturgeschichtlichen sowie theologischen Methoden beizukommen ist. Alles in allem ist das Buch nicht zuletzt auch eine schöne Würdigung des Lebenswerkes eines der großen Neutestamentler des 20. Jahrhunderts, dessen Impulse bis heute stark nachwirken.

Karl-Wilhelm Niebuhr (Jena/Markkleeberg)

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