Buch des Monats: Dezember 2013

Christian Lehnert

Korinthische Brocken. Ein Essay über Paulus.

Berlin: Suhrkamp 2013. 283 S. Geb. EUR 22,95. ISBN 978-3-518-42369-1. © Cover: Suhrkamp

Als »Dichter und Theologe« firmiert Christian Lehnert, derzeit Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD in Leipzig, auf dem Waschzettel dieses auf Buchlänge ausgewachsenen Essays über Paulus. »Dichter und Theologe« – sind das zwei Berufsbezeichnungen oder eine? Ebenso wenig wie man zum Theologen geboren wird, kann man auf Dichter studieren. Nach dem vorliegenden Text zu urteilen könnten weitere Professionen des Autors hinzukommen: Schriftausleger und Philosoph, Bibelleser und Publizist, Philologe und Religionswissenschaftler, Kunsthistoriker und Sprachschöpfer usw. Auf allen genannten Gebieten scheint Lehnert zu Hause und kann jeweils aus dem Vollen schöpfen.
Die Gattung des Buches ist schwer zu bestimmen. Einerseits folgt es fortlaufend, wenn auch mit Sprüngen, dem Text des 1. Korintherbriefes, bietet ihn sogar im griechischen Wortlaut mit Lutherübersetzung. Also ein Kommentar in Auswahl? Dafür sprechen philologische und historische Erläuterungen zu Paulus und den Briefadressaten in Korinth, Hinweise auf antikes Lokalkolorit, auslegungsgeschichtliche Exkurse und knapp 150 Endnoten mit Nachweisen von Sekundärliteratur. Andererseits wechseln Stil und sprachlicher Charakter ebenso häufig wie die Ebenen der Referenz: Auf essayistische Prosa folgen meditative Passagen. Öfters werden Gedichte eingestreut, meist eigene. Die textbezogenen Interpretationen sind mit autobiographischen Reminiszenzen oder philosophischen Reflexionen durchsetzt. Also doch eher ein ästhetisch-literarisches Werk?
Die Sprache des Autors will Bilder im Leser erwecken, poetische oder aufrüttelnde, besinnliche und bisweilen verstörende. An der Sprache des Paulus, dem Griechischen wie dem Lutherdeutsch, an Begriffen aus dem Urtext oder Wendungen aus der theologischen Tradition hängt Lehnert seine Gedanken auf, lässt sie im Wind seiner weit schweifenden Ideen wehen, und oft fliegen sie am Ende ohne zusammenfassendes Resümee davon. Man schaut und denkt ihnen gern nach, bis sich unmerklich eigene Reflexionen einstellen.
Persönlich angesprochen von Paulus zeigt sich auch der Autor selbst, aber nicht im üblichen, leicht schal wirkenden Sinne von »Betroffenheit«, sondern als jemand, der den Menschen Paulus und seine Gedanken an sich heran, in seine eigene Gedankenwelt hinein lässt und dadurch selbst anders denkt, ein anderer wird. Gleichwohl sind Ton und Niveau des Textes vorwiegend reflexiv und argumentativ und damit zugleich auch diskursiv und kommunikativ. Man fühlt sich hineingenommen in seinen Gedankenaustausch mit Paulus.
Am Ende wird der Dichter zum Prediger: Die christlichen Kirchen schrumpfen, ihre Glaubensaussagen verlieren an Plausibilität, ihre Riten vergilben und ihre Metaphern verhärten. Das setzt ihm zu, aber es macht ihn nicht sprachlos. »Aber das Christen-tum? Es ist unmöglich, eine Frucht in ihren Baum zurückzubringen, nachdem sie gepflückt wurde. Viele ahnen einen Verlust, aber es gibt auch kein einfaches ›Zurück‹. Der neuzeitliche Mensch ist eingetaucht in ein unendliches Universum, und er hat in sich selbst in demselben Sinken einen Abgrund entdeckt, der ihn staunen und erschrecken läßt. Das hat ihn verändert und hat ihn den Gott anders wissen oder vermissen lassen: als einen Ungrund, ein Öffnen ins … ›Danach‹ – die Formen des Religiösen sind von einem verwirrenden Wandel ergriffen.«

Karl-Wilhelm Niebuhr (Jena/Leipzig)

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