Book of the month: February 2012

Goetze, Andreas

Religion fällt nicht vom Himmel. Die ersten Jahrhunderte des Islams.

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011. 491 S. m. 17 s/w Abb. u. 1 Kt. 16,5 x 24 cm. Kart. EUR [D] 59,90. ISBN 978-3-534-24180-4

Andreas Goetze verfolgt mit seinem Buch zwei Anliegen, die auf den ersten Blick sehr schwer miteinander vereinbar erscheinen: Auf der einen Seite ist es ihm um die historische Rekonstruktion der Frühgeschichte des Islam zu tun, wobei er die höchst umstrittenen Theorien kritischer Forschender der jüngeren Zeit mit Argumenten der klassischen Islamwissenschaft ins Gespräch bringen will. Auf der anderen Seite möchte er einen Beitrag zur Verbesserung des Klimas im interreligiösen Dialog leisten, indem er das gemeinsame geistige Erbe von Judentum, Christentum und Islam herausstellt – in den ersten Worten des Vorworts sich berufend auf den Brief von 138 muslimischen Gelehrten an Papst Benedikt XVI. und andere führende Geistliche des Christentums »A Common Word between Us and You«.
Die historischen Befunde, die Goetze in seiner Deutung der islamischen Frühgeschichte auswertet, sind unter anderem folgende: das völlig Fehlen von Erwähnungen sowohl des Islam als auch von Mekka in nicht-islamischen Quellen des 7. Jh.s n. Chr., der rückblickende Charakter der islamischen Geschichtserzählung aus der Perspektive des 9. Jh.s, die Deutungs¬offenheit des Korantextes sowie seine Unabhängigkeit von der islamischen Geschichtserzäh¬lung und die Münzprägungen der Umayyaden, die nicht dem Bild des späteren islamischen Ikonoklasmus entsprechen. Gemeinsam mit anderen neueren Theorien vertritt Goetze die Ansicht, dass sich die Textüberlieferung des Koran zu einem großen Teil aus Glaubens¬auffassungen heraus verstehen lässt, die auch im syrischen Christentum vertreten wurden. Was er deutlicher herausstellt als manche seiner Vorgänger ist eine Vorstellung davon, wie der Islam dann dennoch zu dem wurde, als was er sich seit dem 9. Jh. darstellt.
Die Herrschaft der Umayyaden interpretiert Goetze als die Expansion eines Reiches von christlichen Arabern, die zuvor Bundesgenossen (»Quraisch«) der Byzantiner bzw. der Perser gewesen waren. Sowohl den Felsendom in Jerusalem als auch die Anfänge der heutigen großen Moschee in Damaskus als eine Johannes dem Täufer geweihte Städte interpretiert er in diesem Rahmen. Während anfangs noch Jesus, der Mensch und Sohn Marias, eine zentrale Rolle gespielt habe, sei später der auf Münzen erscheinende Muhammad (»Der Gepriesene«) als Titel einer als kommend erwarteten eschatologischen Gestalt in den Mittelpunkt getreten.
Den Umschlag zu einer nicht mehr christlichen Neuinterpretation sieht Goetze in der Eroberung des christlich-arabischen Reiches der Umayyaden durch die von Persien her kommende Haschimiyya-Bewegung, die sich später Abbasiden nannte. Ihnen schreibt er eine apokalyptisch-dualistische und gesetzesbetonte Umdeutung der zuvor eschatologischen, mit dem Titel Muhammad verbundenen Botschaft zu und die Verbreitung der Biographie einer historischen Persönlichkeit Muhammad, die dem Mekka und Medina des 7. Jh.s christlicher Zeitrechnung zugeordnet wurde.
Die von Goetze vorgetragene Geschichtsdeutung wird sicherlich erneut kontroverse Diskussionen auslösen. Angesichts dessen, dass unser heutiges Verständnis davon, was »eine Religion« in Abgrenzung zu einer »anderen Religion« ist, weitgehend erst in der Neuzeit gewachsen ist, mag man sich fragen, ob nicht manches von den hier zu Recht herausgestellten fließenden Entwicklungen auch so hätte gezeichnet werden können, dass es für Selbst¬ver¬ständnisse im Mainstream des heutigen Islam wohlwollender erwogen werden kann. Dies wäre m. E. dem Interesse des zweiten von Goetze vorgetragenen Anliegens dienlich gewesen – der Verbesserung des Gesprächsklimas im interreligiösen Dialog. Ich teile nicht die Auffassung, dass man Eschatologie gegen Apokalypse und Evangelium gegen Gesetz stellen muss, um überhaupt erst die gemeinsamen Grundlagen für ein fruchtbares Gespräch zwischen Juden, Christen und Muslimen zu gewinnen. Die apokalyptische Tradition gehört zu dem, was Judentum, Christentum und Islam am eindeutigsten miteinander gemeinsam haben, und m. E. ließe sich eine sorgfältige Interpretation der Apokalyptik durchaus einbinden in das Anliegen, Gemeinsamkeiten neu sehen zu lernen.


Andreas Feldtkeller (Berlin)

More books