Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1249 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Theis, Stefanie

Titel/Untertitel:

Religiosität von Russlanddeutschen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 260 S. gr.8° = Praktische Theologie heute, 73. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-17-018812-9.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

In ihrer praktisch-theologischen Dissertation legt die Vfn. Ergebnisse intensiver empirischer Forschung vor und führt sie mit der Analyse der Ergebnisse aktueller Migrationsforschung sowie religionssoziologischer und zeitgeschichtlicher Forschung zusammen.
Die Validität der Ergebnisse der Arbeit wird gestützt durch die Zugrundelegung sozialwissenschaftlicher Arbeitsmethoden im Bezug auf das bearbeitete Thema. In der gesamten Studie wird die Religiosität von Russlanddeutschen interdisziplinär reflektiert, sowohl historische als auch soziologische und theologische As­pekte werden entfaltet, zu einfache Folgerungen aus empirischer Beobachtung, eigener wie fremder, werden problematisiert. Mögliche praktisch-theologische Konsequenzen aus den Arbeitsergebnissen werden aufgezeigt. Reisen in die GUS, Besuche von evangelisch-lutherischen Gemeinden in Russland und den baltischen Staaten und bei religiösen Institutionen sowie elf geführte narrative Interviews – interviewt wurden vier Männer und sieben Frauen in Hessen, Niedersachsen und Russland im Alter von 24 bis 88 Jahren – bilden die empirische Basis dieser Arbeit. Die sicher etwas schmale Datengrundlage für ein so anspruchsvolles und umfassendes Thema wird ergänzt durch umfassende Literaturstudien. Theoriebildung und Verallgemeinerung der Ergebnisse orientieren sich an der Methode qualitativer Sozialforschung, die Theoriebildung auf der Grundlage empirischer Daten intendiert, ohne indes Anspruch auf repräsentative Ergebnisse zu erheben. Insgesamt sind die Er­gebnisse der Studie damit auf eine solide Basis gestellt.
Im ersten Kapitel stellt die Vfn. in großen Zügen die Geschichte der Deutschen in Russland dar, die sich in den geführten Interviews für das Selbstverständnis der Russlanddeutschen als äußerst wichtig erweist, insofern die Gesprächspartner die eigene Familiengeschichte immer in die allgemeine Geschichte einzubinden versuchen. Das Verhältnis der Russlanddeutschen zu ihrer Umgebung entwickelte sich diskursiv und stand in den Jahren von Vertreibung und Zwangsumsiedlung, 1915–1921 sowie August 1941, unter besonderer Belastung. Im zweiten Kapitel wird der Zusam­menhang zwischen kultureller Identität der Deutschen und der Religionskultur Russlands untersucht. Deutsch-lutherische Identität war immer mit dem Bewusstsein der Heimatlosigkeit und des Fremdseins verbunden. Dabei verweist die Vfn. auf die ambivalente Rolle der Deutschen im Zarenreich als Lehrmeister in der Landwirtschaft, in der Bildung, Verwaltung und beginnender Industrialisierung einerseits, als Objekte russischer Anfeindungen in Folge außenpolitischer und ökonomischer Entwicklungen andererseits. Auch die Verfolgungen von Religionen im kommunistischen und die Entwicklung im postkommunistischen Russland werden in diesem Kapitel beschrieben.
Die Darstellung der religiösen Renaissance nach der Perestrojka und der folgenden Ernüchterung sowie der erneuten Begünstigung der Orthodoxie ist besonders interessant. Vor dem Hintergrund der von Stalin geförderten Wiederbelebung und Instrumentalisierung der Russisch-Orthodoxen Kirche stellt die von der Vfn. im dritten Kapitel behauptete Analogie zwischen orthodoxem Gottesbild und sowjetischem Führerkult eine bemerkenswerte These dar. Anhand zweier Fallbeispiele zeigt die Vfn., dass die Religiosität russlanddeutscher Migranten zwischen Athe­ismus, fundamentalistischer Mentalität und pietistischer Frömmigkeit angesiedelt ist. Dabei wird zunächst gezeigt, dass die Wiederentdeckung der Religion nach der Perestrojka »Ausdruck einer kritischen Reaktion auf Säkularisierung und Modernisierung« ist. Die Neigung zu Atheismus, fundamentalistischer oder pietistischer Frömmigkeit steht in einem generationsabhängigen Verhältnis zur jeweiligen individu­ellen Sozialisation. Besonders betont die Vfn. in diesem Zusam­menhang die Rolle der Frauen für das religiöse Leben. Die Präsentation der beiden Interviews mit Vera Filsberger als Migrantin und Johanna Kirchner als in Russland Verbliebener vertieft vorgetragene Ergebnisse und zeigt besonders die Enttäuschungen, die mit der Konfrontation mit modernem Gemeindeleben in Deutschland verbunden sind.
Das vierte Kapitel wertet schließlich die Ergebnisse der Studie aus, analysiert den Verlauf des Migrationsprozesses, ordnet ihn auf der Grundlage der Migrationssoziologie ein, fasst die Ergebnisse zusammen und skizziert einige Konsequenzen für kirchliches Handeln. Insgesamt bietet das Buch einen wichtigen Einblick in eine ge­sellschaftlich und theologisch relevante Problemstellung.