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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1247–1249

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Roßner, Benjamin

Titel/Untertitel:

Das Verhältnis junger Erwachsener zum Gottesdienst. Empirische Studien zur Situation in Ostdeutschland und Konsequenzen für das gottesdienstliche Handeln.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 399 S. m. Tab. gr.8°. Geb. EUR 32,00. ISBN 3-374-02313-4.

Rezensent:

Lutz Friedrichs

Empirische Studien zum Gottesdienst sind rar. Zwar haben die Kirchenmitgliedschaftsstudien der EKD seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts das Empirische auch hinsichtlich des Gottesdienstes etablieren können: Seither ist klar, dass es nicht den »einen« Kirchgang gibt, sondern verschiedene Formen mit einer je eigenen »Logik«. Deren subjektive Dimension ist bis heute aber kaum erforscht. Deshalb können Benjamin Roßners Studien mit besonderer Aufmerksamkeit rechnen, zumal ihr Fokus, junge Erwachsene Ostdeutschlands, eine Verschärfung der liturgischen Problemlage erwarten lässt.
Die Studien sind die Druckfassung seiner Dissertation, die unter der Betreuung von Wolfgang Ratzmann an der Universität in Leipzig entstanden ist. Das Buch beinhaltet zwei Schwerpunkte: Eine kirchensoziologische Studie und Überlegungen zu liturgiewissenschaftlichen Konsequenzen.
Die kirchensoziologische Studie (Kapitel 1–9) ist ihrem Kern nach eine qualitative Studie zum Verhältnis junger Erwachsener zum Gottesdienst. In Vorbereitung dieser Studie werden bereits vorliegende quantitative Untersuchungen zum religiösen Selbstverständnis und zur allgemeinen Kirchlichkeit junger Erwachsener kritisch ausgewertet. Als Vorbereitung gilt auch eine – selbst durchgeführte – Teilstudie zur Sichtweise »der liturgisch Verantwortlichen« (139), basierend auf einer Umfrage in 285 Gemeinden im Winter 2001/2002 mit Schwerpunkt in der sächsischen Landeskirche. Ihr Ergebnis ist, dass die 18- bis 29-Jährigen kirchlich »dramatisch« (158) unberücksichtigt bleiben.
Die Perspektive junger Erwachsener rekonstruiert R. in 18 Leitfadeninterviews, die nach der Methode der qualitativen Sozialforschung Mayrings ausgewertet werden. Zunächst werden in acht Einzelfalldarstellungen individuelle Sichtweisen auf den Gottesdienst präsentiert, beginnend mit »Manuela«, die von sich sagt, nicht so ein »fleißiger Kirchgänger« zu sein, über »Florian«, der sich »gar nicht weiter einbringen« will bis hin zu »Lukas«, der sagt: »es ist halt mein Ding […] diese Art Gottesdienst.«
Sodann werden in einem mehrstufigen Typologisierungsprozess fünf Idealtypen des Verhältnisses zum Gottesdienst entwi­ckelt: Nach R. gibt es 1. den beobachtenden Typus des »Weih­nachts­kirchlichen«, 2. den kritischen Typus des »Aussteigers«, kirchlich sozialisiert, sich aber im jugendlichen Emanzipationsprozess auch von der Kirche lösend (so »Florian«), 3. den interessierten Ty­pus »Einsteiger«, der sich umgekehrt »aus einer familiären Tradition der Unkirchlichkeit« (325) zu lösen bereit ist, 4. den aufmerksamen, kirchlich sozialisierten Typus »bedürfnisorientierter Gottesdienstbesucher« (so »Manuela«) und 5. den Typus des »Hochintegrierten«, erkennbar an einer positiven, »intensiven und vielfältigen Beziehung zu Kirche und Gottesdienst« (327, so »Lukas«). Die Porträts bieten ein so anregend-facettenreiches Bild, dass man aufpassen muss, die Relationen im Blick zu behalten: Was hier vorgestellt wird, ist nur eine kleine Minderheit junger Erwachsener Ostdeutschlands, die – so ein Auswahlkriterium – schon einmal einen Gottesdienst besucht haben.
Der zweite Schwerpunkt, die liturgiewissenschaftlichen Konsequenzen (Kapitel 10), sind vom Umfang her sehr viel knapper. Der Übergang zwischen Kirchensoziologie und Theologie, sozusagen das Scharnier des Buchs, wird kaum reflektiert. R. begnügt sich hier mit zwei Anmerkungen (329f), die neugierig machen (Gottesdienst als »gestiftetes Geschehen«), aber weiter hätten entfaltet werden müssen. Vier Konsequenzen werden bedacht: 1. Rhythmen der Gottesdienstteilnahme, 2. Liturgiedidaktische Begleitung Ju­gend­licher und junger Erwachsener, 3. Abendmahl als Problemfeld im Gottesdienst und 4. Partizipation. Es wird nicht beansprucht, grundlegend Neues zu formulieren, auch nicht alles zu bearbeiten, was vorher im Blick war (so etwa das Thema religiöser Synkretis­mus, 104). Es geht vielmehr darum, Herausforderungen wie die »Differenz zwischen einer eher beobachtenden, konservativen Grundhaltung im Gottesdienst [die Weihnachtskirchlichen] und einer aktiven, experimentierfreudigen, sowie verantwortungsbewussteren Position [die Hochintegrierten]« (370) zu benennen und in ihrer ostdeutschen Zuspitzung verständlich zu machen. Ob die Einschätzung, die Hochintegrierten seien »verantwortungsbewusster«, wirklich zutreffend ist, mag bezweifelt werden, wie auch die, die »Weihnachtskirchlichen«, seien »oberflächlich« (290). Irritierend fällt das nur auf, weil die Studie ansonsten durch ihren sozialwissenschaftlich unprätentiösen Stil besticht und nach Im­pulsen zur liturgischen Akzeptanz von Formen distanzierter Teilnahme sucht (361, Anm. 82). Könnte das Material nicht auch so gelesen werden, dass gerade die »Weihnachtskirchlichen« es sind, die die Spielräume des Gottesdienstes – jenseits des Oberflächlichen – für sich produktiv zu nutzen wissen (»da denke ich für mich«, 192)? Das zu prüfen, ist jedoch nicht möglich, weil die Interviews nicht vollständig abgedruckt sind.
Der Befund hinsichtlich des Abendmahls ist für R. überraschend: »Eine besonders einladende Wirkung scheinen die gottesdienstlichen Mahlfeiern nicht zu haben. Zumindest sind sie meist kein Bestandteil einer positiven Gottesdienstvorstellung der Be­fragten« (356). Offensichtlich haben sich neuere Entwicklungen im Abendmahl in der Praxis noch nicht durchsetzen können oder werden von jungen Erwachsenen nicht wahrgenommen. R.s liturgiedidaktische Konsequenzen sind zu Recht kompromisslos kritisch gegenüber offenen und latenten binnenkerngemeindlichen Normierungen: Das »Einüben traditioneller Verhaltensmuster« (351) könne »kein Maßstab liturgiedidaktischer Arbeit« mit Konfirmandinnen und Konfirmanden (352) sein. Hintergrund ist, dass die Interviews in erschreckendem Maß ein problematisches Verhältnis zum Gottesdienst in der Konfirmandenzeit haben er­kennen lasse n– sicherlich nicht nur ein ostdeutsches Problem.
Fazit: Wer sich mit jungen Erwachsenen befasst, bekommt Gottesdienst als Reformprojekt in den Blick – nicht nur für junge Erwachsene, sondern auch für andere. Die jugendliche Perspektive wirkt wie ein liturgisches Brennglas: Deutlich werden die Probleme, aber auch Potenziale der Veränderung: Angesichts einer sozial wirksamen »Abwärtsspirale« (336) gilt es, gegen die Tendenz einer gottesdienstlich »vergreisenden nichtssagenden Kleinstgruppierung« (371) initiativ zu werden. Wesentlicher Angelpunkt ist dabei sicherlich ein liturgiedidaktisches Umdenken. Mit Recht wird der methodologische Vorbehalt wirksam, die soziologischen Ergebnisse nicht einfach in liturgische Konzeptionen übertragen zu können. Insofern verstehen sich die liturgischen Überlegungen als »Transformationen der Impulse der empirischen Studie in praxisnahe Kriterien« (363). So hilft die Studie auf ihre Weise, Handlungsanforderungen differenziert zu denken. Sie ist nicht nur anregend, sondern praktisch-theologisch ein Muss, wenn auch das Scharnier zwischen Theorie und Praxis, Soziologie und Theologie noch weiterer vertiefender Überlegungen bedarf.