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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1240–1242

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Veith, Werner

Titel/Untertitel:

Intergenerationelle Gerechtigkeit. Ein Beitrag zur sozialethischen Theoriebildung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 208 S. gr.8° = Forum Systematik, 25. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-17-019320-8.

Rezensent:

Hans-Ulrich Dallmann

Angesichts der gegenwärtigen Probleme ökologischer, ökonomischer und sozialpolitischer Art und ihrer Folgen für kommende Generationen wird seit einiger Zeit »intergenerationelle Gerechtigkeit« eingefordert. Allerdings ist dieser Begriff unscharf und in seiner konzeptionellen Bedeutung in der theologischen Sozialethik weitgehend unbeachtet geblieben. Dies ist der Ausgangspunkt von Werner Veiths Untersuchung zum Thema. Seine These ist, dass der Begriff der sozialen Gerechtigkeit nicht geeignet ist, die zeitliche Dimension angemessen zu berücksichtigen. Deswegen müsse er erweitert werden; dazu könne der Begriff »intergenerationale Ge­rechtigkeit« dienen.
V. analysiert dabei zunächst (I. Kapitel) soziologische und pädagogische Generationenkonzepte, um einen anschlussfähigen Ge­nerationenbegriff zu gewinnen. Sodann (II. Kapitel) untersucht er drei unterschiedliche ethische Begründungsmodelle hinsichtlich der Möglichkeit, sie als Grundlage für die Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffes um die zeitliche Dimension zu verwenden. Das abschließende III. Kapitel entfaltet den Begriff der intergenerationellen Gerechtigkeit, indem er auf die klassische Gerechtigkeitstheorie bezogen und mit dem Begriff der Nachhaltigkeit konzeptionell konkretisiert wird.
V. unterscheidet zwei grundlegende soziologische Generationenkonzepte: das genealogisch-familiensoziologische und das hi­s­torisch-soziologische. Das erste positioniert Personen zeitlich in einem familialen Gefüge, es fokussiert die unterschiedlichen Beziehungen zwischen den Generationen, die sich gegenwärtig paradigmatisch als »multilokale Mehrgenerationenfamilie« rekonstruieren lassen. Das zweite Konzept bezieht sich auf Generationen, die sich durch das Erleben historischer Ereignisse in ähnlichen Lebensaltern konstituieren. Dabei werden synchrone und diachrone Di­mensionen verbunden, um als »kulturelle Regelungen der Zeitlichkeit« die Gleich- und Ungleichzeitigkeit der verschiedenen Generationen zu integrieren. Pädagogische Generationenkonzepte wiederum unterscheiden zwei Generationen, die durch die Vermittlung und Aneignung kultureller Wissensbestände gekennzeichnet sind. Somit erlaubt der Generationenbegriff, unterschiedliche synchrone und diachrone Beziehungsmuster zu identifizieren.
Im zweiten Kapitel sichtet V. Hans Jonas’ metaphysischen, Dieter Birnbachers utilitaristischen und John Rawls’ vertragstheoretischen Ansatz, um Anknüpfungspunkte für die Implementierung der zeitlichen Dimension in den Gerechtigkeitsbegriff zu gewinnen. Bei Jonas lassen sich zwar mit dem »kategorischen Imperativ der Zukunftsethik«, der »Heuristik der Furcht« und der »Theorie der Verantwortung« Elemente bestimmen, die es erlauben, künftige Generationen in die ethische Reflexion einzubeziehen, jedoch hält V. diesen Ansatz für inadäquat, da er auf Grund seiner metaphysischen Voraussetzungen die Autonomie und Freiheit des Subjekts sowie die kategoriale Differenz zwischen Sein und Sollen nicht angemessen berücksichtige. Bei Birnbachers Ansatz identifiziert er vier Elemente, die eine Zukunftsorientierung ermöglichen: das Prinzip der Universalität, das hedonistisch fundierte Prinzip der Nutzensummenmaximierung, die Grundnorm des intergenerationellen Nutzensummenutilitarismus, die das als geboten an­sieht, was im Blick auf alle gegenwärtigen und zukünftigen Generationen die größtmögliche Differenz von Glück und Leiden verspricht, sowie die Berücksichtigung von Sicherheitspräferenzen künftiger Generationen. Allerdings sieht V. eine Anknüpfungsmöglichkeit aus prinzipiellen utilitarismuskritischen Einwänden für nicht gegeben. An Rawls’ Gerechtigkeitstheorie lässt sich hingegen positiv anschließen, da dieser eine modernitätsgerechte Anthropologie mit einem Gesellschaftsbegriff verbinde, der als Generationen übergreifende Kooperation von Bürgern konzipiert wird. Darüber hinaus werden die Rawlsschen Prinzipien mit einem intergenerationellen Spargrundsatz gekoppelt, wodurch die »Ge­rechtigkeit als Fairness« um eine diachrone Dimension er­weitert wird.
Im letzten Kapitel wird die intergenerationelle Gerechtigkeit als zentraler Aspekt des Gerechtigkeitsbegriffs herausgearbeitet. Dem dient neben einer anthropologischen Rückversicherung über das Personenkonzept eine Explikation klassischer Konzepte der (sozialen) Gerechtigkeit. In Verbindung mit den eingangs entwickelten Generationenkonzepten werden sodann die Teilaspekte der gerechtigkeitstheoretischen Tradition hinsichtlich der diachronen Grundnorm neu interpretiert. Dies wird abschließend unter Hinzunahme des Nachhaltigkeitsbegriffs konkretisiert und auf die unterschiedlichen Generationenverhältnisse bezogen.
Insgesamt ist es V. gelungen, die systematische Relevanz der Generationenverhältnisse für die Grundlegung der Sozialethik plausibel zu machen. Dabei liegt die Verbindung mit dem Konzept der Nachhaltigkeit auf der Hand. Trotzdem stellen sich einige kritische Rückfragen: Das zentrale Prinzip der Nachhaltigkeit wird von V. erst spät – und eher historisch-genetisch statt systematisch– eingeführt. Warum eine eingehendere Auseinandersetzung unterbleibt, wird nicht deutlich. Hingegen wird der Auseinandersetzung mit den Ansätzen von Jonas, Birnbacher und Rawls mehr als ein Drittel des Buches eingeräumt, während der systematische Ertrag dieser Auseinandersetzung eher gering bleibt. Ähnliches gilt für die Diskussion des Gerechtigkeitsbegriffs, bei der die Auf­arbeitung aktueller Kontroversen – etwa zum Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit – unterbleibt. Auch die Erörterung der Rawlsschen Position unterschlägt die kritischen Rückfragen im Zusammenhang der Kommunitarismusdebatte, die insbesondere dessen anthropologische Grundannahmen thematisieren. Diese Einwände schmälern aber nicht den wichtigen Beitrag, den diese Untersuchung für die systematische Integration der zeitlichen Dimension in die sozialethische Debatte leistet.