Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1238–1240

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Breuckmann-Giertz, Carmen

Titel/Untertitel:

»Hospiz erzeugt Wissenschaft«. Eine ethisch-qualitative Grundlegung hospizlicher Tätigkeit.

Verlag:

Münster-Berlin: LIT 2006. 324 S. m. Tab. gr.8° = Studien der Mo­raltheologie, 33. Kart. EUR 39,90. ISBN 3-8258-9209-3.

Rezensent:

Reiner Marquard

Die 2005 vorgelegte Promotion am Moraltheologischen Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn wurde be­reits im Oktober 2006 mit dem Geffrub-Preis ausgezeichnet. Die Vfn. stellt sich einem gewichtigen sozialethischen Thema unter moraltheologischer Perspektive. Es geht ihr um den Ausgleich »von Selbst und Anderem, von hospizlicher Praxis und wissenschaftlicher Forschung« (10). Gegen die allgegenwärtige Kraft der Entpersonalisierung und Isolierung im Sterben sucht sie nach einer (moral-)theologischen Grammatik, die »eine ganzheitliche solidarische Begleitung« (12) befördert. Das Ziel soll sein, »eine ethische Grundlegung hospizlicher Handlungskonzepte zu entwickeln« (16). Der Gang ihrer Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil widmet sich der Erhebung und Explikation empirischer Daten hospizlich-palliativer Einrichtungen, Entscheidungsträger im Gesundheitswesen und Allgemeiner Dienste im Gesundheitswesen. In Anlehnung an Wolfgang Klafkis Theorie der ›katego­rialen Bildung‹ erweist sich dieses Modell »im Hospiz- und Palliativ-medizinischen Bereich … immer mehr als eine der ent­schei­denden Fragen für die Weitergabe der Hospizidee und damit für die Zukunft der Hospizbewegung« (46 f.). »Das generelle Stichwort dieser Suchbewegung heißt Qualität« (46). Qualität im Kontext der Hospizarbeit bedeutet vor allem die Erlebnisqualität, d. h. die Zu­friedenheit des Patienten und dessen Lebensqualität. Die Erlebnisqualität ist der Struktur- und Prozessqualität vorgeordnet, bzw. Struktur- und Prozessqualitäten sind »subsidiäre Qualitäten« (81). Die empirischen Erhebungen ergeben eine Spannung zwischen den Deuteworten Autonomie und Fürsorge. In dem Maße wie sich die Pflege professionalisiert hat, erwächst ihr auch ein Bedarf an pflegeethischer Klärung.
Der zweite Teil ermittelt anhand der Datenerhebung »grundlegende Leitkategorien als objektive Sinnstrukturen« (18), um die Mehrdimensionalität und Multidisziplinarität hospizlicher Arbeit nicht nur konfligierend, sondern synergetisch aufnehmen zu können. Die entscheidenden Leitkategorien (abgeleitet von der Kan­tischen Kategorienlehre) sind Qualität und Relation. »Als genuin ethische Qualitäten im hospizlichen Kontext gelten … die persönliche Identifikation mit der Tätigkeit und der Einrichtung, Motivationen sowie die eigene Grundhaltung zur gegebenen Verantwortungsdimension« (19). Qualität und Relation sind bezogen »auf den Aufbau einer Kultur des Sterbens und deren Integration in die Strukturen, Abläufe und Auswirkungen der gesellschaftlichen Lebenswelt allgemein und von Institutionen im Besonderen« (201) sowie der individuierten Versorgung, die sich der Einzigartigkeit des Sterbenden verpflichtet. Qualität kann also nicht reduziert werden auf die Ermittlung der Vergütungen der erbrachten Leis­tungen auf der Basis belegbarer Leistungs- und Qualitätsnachweise z. B. nach dem Pflege-Qualitätsgesetz vom 1.1.2004. Vielmehr bestätigt der Neuentwurf von § 113 SGB XI hingegen, dass »vornehmlich die Ergebnisqualität, also die Patientenzufriedenheit, das Maß der individuellen Pflege-Patient-Beziehung und schließlich der bedürfnis- und personenorientierte Verlauf eines individuellen Sterbeprozesses faktisch Auskunft über erreichte Qualität geben können« (202).
Der abschließende dritte Teil widmet sich der Bestimmung der moralischen Identität – ›mithin‹ (um es in einem von der Vfn. gern gebrauchten Idiom zu sagen) »der ethischen Grundlegung und Begründung der geforderten Haltungen zum Anderen« (19).
In diesem Teil befasst sich die Vfn. insbesondere mit der phänomenologischen Hermeneutik Paul Ricœurs. So sehr die subjekt­orientierte Philosophie Kants als Appell an die eigene Autonomie und Selbständigkeit den Menschen als intelligibles Wesen an­spricht, so sehr läuft doch dieser Appell an das Selbst ins Leere, wenn das Selbst sich nicht in Unterscheidung und Zuordnung zu anderem Selbst als ein Selbst erführe. Kants Universalisierungsperspektive reduziert den Relationsbegriff konstitutiv auf das moralische Subjekt, das sich im kategorischen Imperativ normativ aus Pflicht zur Relationalität selbst bestimmt. Autonomie gibt es aber nicht exklusiv als Selbst-Sein, sondern konstitutiv nur als Mit-Sein. Ricœur erschließt die Relationalität des guten Lebens in der Dialektik von Selbigkeit und Selbstheit (224.254) als »Andersheit des Selbst wie des Anderen« (256). Im Selbst-Konzept Ricœurs ist in die interpersonale Wertschätzung auch die jedem Selbst »innewohnende affektive Zerbrechlichkeit« (257) einbezogen. Leider wurde in diesem Kontext die evangelische Perspektive ausgeblendet, die doch gerade in ihren anthroporelationalen Herleitungen der Vfn. eine reichhaltige Unterstützung hätte anbieten können. Luther redete vom Menschen als Beziehungswesen in praedicamento relationis: »Denn Gott ist jemandes Gott und ist immer angesagt mit Hinsicht auf eine Beziehung. (Die Aussage) ›Gott‹ erfordert solche, die (ihn) anrufen und verehren. Denn Gott haben heißt Gott verehren« (Luthers Tischreden. Zusammengestellt von Jürgen Henkys, Leipzig 2003, Nr. 98 [Tischreden Weimarana Nr. 5292]).
Unter dem Schlüsselparameter ›Qualität und Relation‹ werden drei relevante Aspekte für eine hospizliche Pflegeethik angedeutet: 1. Hospiz schafft in dem Sinne Wissen, dass es intuitives, existentiales, interpersonales und gesellschaftliches Sterblichkeits-Wissen generiert (282). 2. ›Lebendige Strukturen‹ als Prinzip hospizlicher Organisation sind insbesondere die Ehrenamtlichen (290). 3. Die Konvergenz von ›Eigenwohl‹ und ›Gemeinwohl‹ erfährt sich im hospizlichen Ehrenamt »einerseits als anwesend in jedem Sterbenden als Teil der Menschheit und andererseits anwesend in der Multidisziplinarität des klinischen Kollektivs« (296).
In der hospizlichen Arbeit geht es wesentlich darum, ein Versprechen (217) zu halten, als Selbst dem Anderen ein Anderer zu sein auch und gerade im Sterben. Die doppelte gattungswesentliche Grundbestimmung von Selbständigkeit und Beziehungsreichtum darf gerade in der hospizlichen Ethik nicht einseitig zu Guns­ten der Autonomie durchbrochen werden, um sich sozial von der Last des Versprechens billigend zu befreien. Aktive Sterbehilfe ist deshalb kein wirkliches Konzept, sondern eine lediglich subjektive (aber in keinem Fall objektive) Reduktion menschlicher Möglichkeiten auf das Vorenthalten von Treue. Hospizliche Ethik ist in diesem Sinne ein Parameter für Ethik überhaupt. An der Art und Weise der Kultur des Sterbens lässt sich die Kultur des guten Lebens einer Gesellschaft abschauen.
Die Vfn. hat ein beachtliches wegweisendes Buch geschrieben. Es setzt für eine christliche Hospizarbeit Standards. Ungelöst bleibt die Frage, inwieweit der unausgestandene Konflikt zwischen Autonomie und Fürsorge (als Indikator für das asymmetrische Leben) in einer offenen Gesellschaft sich so dynamisiert, dass an­throporelationale Argumentationsmuster unter erheblichem Er­klärungsbedarf stehen. Der demographische Faktor, die ambivalenten Auswirkungen medizinischer Erfolge (multifaktorielle und chronische Krankheitsverläufe mit entsprechenden Sterbeprozessen, die neue palliativ-medizinische Herausforderungen bedeuten), soziale Exklusion im Alter, präferenz-utilitaristische Ethikansätze etc. deuten an, dass die Vfn. das richtige Thema gewählt hat, aber nicht erwarten darf, von allen entsprechend dankbar verstanden zu werden. Der Schlussteil der Arbeit (299–308) ist eine etwas sozialromantisch geratene Reminiszenz an die Sterbegeschichte Johannes Paul II. Sein »Ich bin froh, seid ihr es auch« (299) wird gewiss nicht ohne den bei Ricœur entlehnten Gedanken der affektiven Zerbrechlichkeit zu hören sein. Dann aber verbietet sich der instrumentalisierende Gebrauch sog. letzter Worte. Das letzte Wort dieser Besprechung soll aber eine einschränkungslose Empfehlung der Lektüre dieses gescheiten, hilfreichen und notwendigen Buches sein.