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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1230–1232

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter, Hallacker, Anja, u. Sebastian Lalla [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erzählende Vernunft.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2006. 385 S. gr.8°. Geb. EUR 59,80. ISBN 978-3-05-004209-1.

Rezensent:

Doris Hiller

Trotz intensiver geschichtstheoretischer, historiographischer, phi­losophischer und theologischer Beschäftigung mit der Er­kennt­nisleistung des sprachlichen Modus des Erzählens in den letzten Jahren, irritiert ein Titel wie der des vorliegenden Buches immer noch: »Erzählende Vernunft«. Ratio und Narratio stehen in einem spannungsvollen Verhältnis, das aber als solches nicht mehr unbedingt in Frage gestellt wird, sondern auf die erkenntnisleitende Produktivität, insbesondere des geschichtlichen Verstehens, hin diskutiert wird.
Der Sammelband zum Zusammenhang von Philosophie und Erzählen ist dem Berliner Philosophen Wilhelm Schmidt-Biggemann gewidmet. Die Autoren und Autorinnen geben mit ihren Beiträgen vor allem der Geschichte der Philosophie mit dem von Schmidt-Biggemann verfolgten Schwerpunkt auf Renaissance und früher Neuzeit Raum. Allerdings würden bio-/bibliographische An­gaben zu dem mit diesem Band Geehrten den Einblick in das Themenspektrum ebenso bereichern wie kurze Bibliogramme der Autorinnen und Autoren.
Die 26 Beiträge beleuchten das (geschichts-)philosophische Thema des Erzählens aus höchst unterschiedlichen Perspektiven. Mit der Gliederung in sechs Abteilungen wird eine erste Orientierungshilfe zum Umgang mit dem Thema gegeben.
Dass in der Philosophie erzählt wird, macht das erste Kapitel ›Philosophisches Erzählen‹, mit Beiträgen von P. R. Blum, H. Feger, A. Hallacker, N. Winkler und H. P. Neumann deutlich. Neben der Entdeckung der Poetik in der Philosophie mit ihrer lebensorientierenden Qualität stehen formale Aspekte – Beispiele und Metaphern als philosophische Elemente – zur Diskussion. In der Breite werden Meister Eckhart, der Renaissance-Gelehrte Ficino, die Popularphilosophie Adelungs, Kierkegaard und Ricœur aufgerufen.
Das Kapitel ›Erzählte Geschichte‹ bietet mit Texten von A. Grafton, M. Muslow, W.-P. Klein, U. J. Schneider und K. Herrmann historiographische Miniaturen u. a. zu Bernhard von Clairvaux, dem Pietismusstreit oder als Erzählausschnitt zur Entstehung des großen vollständigen Universal-Lexicons im 18. Jh.
Unter der Rubrik ›Geschichte erzählen‹ sind sehr heterogene Beiträge versammelt. Nicht nur, dass das hier erzählte Leben des Helisaeus Röslin (W. Kühlmann) seinen Platz besser in der voranstehenden Abteilung gefunden hätte. Mit der Suche nach einer historiographischen Systemtheorie (O. Breidbach), der Darlegung von Geschichte als Bewusstseinsgegenstand (S. Lehmann-Brauns) und den geschichtsphilosophischen Überlegungen zu Eschatologie und Apokalyptik (S. Lalla) wirkt der Bezug zum Erzählen etwas bemüht.
Zum Thema ›Poetische Vernunft‹ sind die Texte von A. Eusterschulte, Th. Leinkauf und S. Salatowsky von dem Interesse geleitet, dass die »Dichtung älter ist als der Beweis« (F. Bacon). Dem im Blick auf das Erzählen eher marginal gehaltenen Thema ›Kabbalistische Vernunft‹ widmen sich R. Häfner und S. Campanini. Sie zeigen, inwiefern die kabbalistische Geheimlehre bei Heinrich Heine, aber auch in Bibelkommentaren des 15./16. Jh.s als intellektueller Hin­tergrund geschichtstheologischer Zugänge gelten kann. Der letzte Abschnitt ›Poetische Vernunft‹ gibt Beiträge wieder (E. Law, G. Frank, H. Rudolph, F. Vollhardt, Th. Brose, G. Hartung, M. Lutz-Bachmann), mit denen gezeigt wird, dass von der griechischen Astronomie über Theologie, Natur- und Staatsrecht bis zur Philosophie Kants immer wieder nach Vermittlungen von Erklären und Erzählen gesucht worden ist. Der vorgelegte Sammelband schließt sich dieser Tradition an.
Mit der thematischen Ausrichtung des Bandes werden viele Aspekte philosophischer Reflexion bearbeitet. Deutlich wird, dass Philosophie in ihrer Rationalität an der das Denken unausweichlich begleitenden Narrativität nicht vorbei kann, ohne Wesentliches im Wissen um Mensch, Welt und Geschichte preiszugeben. Einer Festschrift kann man nicht vorwerfen, dass ihr die große Linie fehlt. Vielmehr ist sie Anregung, die vorgestellten Perspektiven im philosophischen Diskurs auch für eine theologiegeschichtliche Aufarbeitung des Erzählthemas fruchtbar zu machen.