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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1221–1224

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Leppin, Volker

Titel/Untertitel:

Martin Luther.

Verlag:

Darmstadt: Primus 2006. 426 S. m. Abb. 8° = Gestalten des Mittelalters und der Renaissance. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-89678-576-3.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Luther war »der Mensch, der nicht nur einer Epoche ihr Antlitz gab, sondern den auch erst die Umstände seiner Zeit zu dem machten, was er wurde« (349). In dieses konsensträchtige Fazit mündet die neue Lutherbiographie des Jenaer Kirchenhistorikers Volker Leppin. Er gewinnt es als Resultat eines »gedanklichen Experiments« (11). Geleitet von der »Hoffnung …, dass diese Biographie einen eigenen Akzent innerhalb der Lutherbiographik zu setzen vermag« (13), will der Vf. seinen Helden nicht mehr auf die Genese des in ihm aufbrechenden Neuen hin befragen, sondern ihn »so lange wie irgend möglich … als Mensch des späten Mittelalters« (12) verstehen. Seine Experimentalbiographie habe darum nicht nur das eigene Wissen um die Wirkung des Reformators auszublenden, sondern müsse auch unter der Selbstauslegung seines Gegenstandes »hindurchtauchen« (12). Dabei verflüchtigt sich dann sogar Luthers berühmte, viel diskutierte Erinnerung an die eigene reformatorische Entdeckung zu topischer »Konvertitenliteratur« (39), der keinerlei »tatsächliches Geschehen« (113) entspreche.
Dieser experimentelle Ansatz richtet sich gegen eine »bis zum Ikonenhaften« (11) übersteigerte Lutherverehrung. Doch wo wäre solche Verklärung gegenwärtig überhaupt noch zu finden? Das fatale Urteil, die Lutherforschung stehe »bis heute im Banne der Selbstdarstellungen des Reformators« (107), wird vom Vf. insofern auch faktisch relativiert, als er etliche aktuelle Forschungsbeiträge, die Luthers tiefe Verwurzelung in der monastischen, mystischen und humanistischen Frömmigkeit und Theologie seiner Zeit vorführen, affirmativ aufnimmt. Um diese Kontinuitätslinien zu versinnbildlichen, gebraucht der Vf. für den Reformator bis zu der von diesem 1517 vollzogenen Änderung der Schreibweise die ursprüngliche Namensform: Martin Luder. Aparterweise kommt dadurch, wenn ein Ereignis mit einer Rückerinnerung konfrontiert wird, bisweilen (z. B. 92) innerhalb eines einzigen Satzes »Luder« neben »Luther« zu stehen (Verwechslung z. B. 57).
An die Einbettung Luthers in seine Zeit umfassend erinnert zu haben, gehört zu den wichtigsten Verdiensten des Buches. Tatsächlich wäre es nachgerade töricht, in einer Lebensbeschreibung traditionelle Prägungen und innovative Umformungen gegeneinander ausspielen zu wollen, wie denn beispielsweise auch der junge Schleyermacher (so schrieb er sich anfangs) dadurch nichts an Be­deutung verliert, dass man seine Verwurzelung in den neologischen, pietistischen und spinozistischen Traditionen des 18. Jh.s sorgsam erhellt.
Das Buch verdankt sich eingehender Beschäftigung mit dem Reformator. Kundig schildert es etwa die Bedeutung von Luthers Mentor und Beichtvater Staupitz wie überhaupt die lebenslange Prägekraft seiner monastischen Wurzeln. Plausibel ist auch der Aufweis der bei Luther im Jahre 1520 zutage tretenden zentralen Bedeutung des Freiheitsthemas, die »ganz prozessual orientierte Interpretation« (118) der Theologie Luthers oder die mehrfach verbuchte Beobachtung, Luthers Denkweise sei dadurch charakterisiert, dass er anstehende Sachfragen »nicht von oberflächlichen Einzelproblemen aus, sondern von ihren grundlegenden Fundamenten her« (128) zu lösen versuche.
Allerdings wird der Forschungsstand nicht überall so aufmerksam rezipiert wie hinsichtlich der spätmittelalterlichen Einwurzelung Luthers. Das fällt beispielsweise in der Darstellung Karlstadts oder des umstrittenen Beichtrats an Philipp von Hessen oder auch der Disputationsthesen »De homine« von 1536 ins Auge, am stärksten aber hinsichtlich des Thesenanschlags vom 31. Oktober 1517. Der Vf. referiert die von dem katholischen Kirchenhistoriker E. Iserloh vor bald einem halben Jahrhundert vorgetragene Behauptung, der Thesenanschlag habe niemals stattgefunden (125 f.), und schließt sich ihr ohne weiteres an, ohne auch nur andeutend darauf zu verweisen, dass diese Auffassung in der Zwischenzeit eingehend diskutiert worden ist. Bereits wenige Jahre nach Iserlohs Provokation hat H. Bornkamm die Historizität des Thesenanschlags umsichtig begründet. Die meisten evangelischen Lutherforscher sind ihm darin behutsam gefolgt. So bleibt der erstaunte Leser mit seiner Frage allein, weshalb der Vf. sich umstandslos einer forschungsgeschichtlich überholten Auffassung anschließt, ohne deren nachfolgende und triftige Problematisierung auch nur zu erwähnen.
Die umfangreiche »Babylonica«, vermerkt der Vf., sei Luther »flott von der Hand gegangen« (158). Denselben Eindruck vermit­telt sein eigenes Buch. Da wird Luther zum »Medienstar« (151), die Adelsschrift arrangiert »ein argumentatives Set« (226), die späten Jahre lassen »Lebensfrust« (342) vermuten, und die frühe Reformation war so wenig eine »Ein-Mann-Schau« (97) wie Luther der »einsame große ›showstopper der Weltgeschichte‹« (349). Flott ge­schrieben bedeutet freilich auch, dass sich mitunter Worte und Wendungen rasch wiederholen, Informationen mehrfach begegnen und manche Einzelheiten überprüfenswürdig erscheinen. So »liefen« die neun aus Nimbschen entflohenen Nonnen nicht schnellstmöglich nach Wittenberg, sondern sie fuhren bzw. wurden gefahren (237). Zugegeben: ein kleinkariertes Exempel! Andere Unschärfen sind ponderabler. Dazu nur drei Beispiele. Luthers Bibelübersetzung hat »das Wecken der deutschen Sprache« (189) kaum so »exzeptionell« bewerkstelligt, wie der Vf., ein Urteil Herders fortschreibend, meint. Die Einschätzung, Karlstadt sei »letztlich stets eine individuelle Randfigur« (281) geblieben, harmoniert schwerlich mit den Einsichten der jüngeren Karlstadtforschung. Und das (während des Augsburger Reichstags zweifellos belastete) Verhältnis zwischen Luther und Melanchthon dürfte insgesamt, bis hin zu Melanchthons bewegtem akademischem Nachruf, eine differenziertere, im Ergebnis vielleicht doch günstigere Bewertung erheischen.
Die Lebenskurve, die der Vf. seinen Luder/Luther durchlaufen lässt, ist von befremdender Tragik und übrigens auch von Widersprüchen nicht frei. Vom Elternhaus »zu Höherem bestimmt« (15), verinnerlicht er die dort herrschende »Aufsteigermentalität« (21) und erlebt, als »ausgesprochener Erfolgsmensch«, einen »rasanten Aufstieg« (61) an der Wittenberger Universität. Er hat »Teil an einer allgemeinen Reformstimmung in Wittenberg« (90), gehört zu der um Staupitz gescharten Reformgruppe, deren »Zentralgestalt« (97) er dann zunehmend wird. Gleichzeitig aber bleibt er »zeitlebens ein Hin- und Hergerissener« (41), der nur mit Hilfe »guter Berater« (140) diplomatisch klug zu agieren weiß, dagegen, auf sich allein gestellt, von seinen Gegnern, zumal von Eck, immer stärker in ar­gumentative Bedrängnis gebracht wird. Während seines Exils auf der Wartburg vermissen ihn die Wittenberger Freunde als »die eindeutige Zentralgestalt dieser Bewegung« (193). Doch bereits vier Jahre später hat der Reformator »den Zenit seines Erfolges überschritten« (257). Der Streit mit Erasmus führt ihn an die Grenzen seiner intellektuellen Potenz (20.255–257). Zwar ist die kursächsische Visitation dann wieder »ein grandioser Erfolg Luthers« (271) – weshalb eigentlich nicht auch die reichs- und europaweite Ausbreitung der Reformation? –, aber der einstige »Erfolgsmensch« sieht sich gleichwohl »zum Zuschauer« degradiert (292), steht »am Rande der Reformation« (277), wird von Melanchthon ausmanövriert, von Zwingli verspottet, mutiert zum politischen Risikofaktor (297) und »Ballast« der Reformatorengruppe (302), versinkt in »persönlicher Isolierung« (323), ist im Hebräischen, das er zuvor leidlich beherrschte (92), jetzt »ausgesprochen schwach« (323) und muss sich durch das Erscheinen einer Gesamtausgabe als bei lebendigem Leibe begraben empfinden (335): armer alter Martinus, nach steilem Aufstieg umso tiefer gefallen.
Nach dem Bauernkrieg, so der Vf., begann die öffentliche Aufmerksamkeit zu erlöschen: »Es wurde einsam um den Reformator Luther. Und bald sollte es noch einsamer werden« (236). Sogar sein Biograph scheint nun das Interesse an ihm verloren zu haben, die letzten beiden Lebensjahrzehnte sind ihm keine 100 Seiten mehr wert. Dabei ist gar nicht zu bestreiten, dass die charismatische Zugkraft Luthers nach 1525 in der Tat immer stärker hinter die einsetzende Institutionalisierung der Reformation zurücktritt. Eine Dar­stellung der Reformationsgeschichte wird darum auch mit den 1520er Jahren die anfängliche Zentralstellung Luthers zunehmend relativieren. Jedoch eine Lutherbiographie hätte doch umgekehrt Anlass, in der Konsolidierungsphase der Reformation, in der ihr Held kaum noch die spektakulären Szenen beherrscht, stattdessen in Sachtreue, Konsequenz und Beharrlichkeit das Begonnene fortführt, bewahrt und bewährt, ihn auf dieser schwieriger werdenden Wegstrecke erst recht zu begleiten. Indessen leugnet der Vf. keineswegs »die große theologische Bedeutung« des späten Luther, hält ihn jedoch in biographischer Hinsicht offenbar für weniger interessant (391). Aber wie ließe sich bei einem Menschen, dessen Beruf sein Leben war, solche Unterscheidung legitimieren? Schwerlich wäre etwa ein Bachbiograph denkbar, der das Spätwerk des Leipziger Thomaskantors nur noch andeutete, weil Bach auf seine alten Tage bereits ein wenig aus der Mode gekommen war.
Die geläufige Wahrnehmung Luthers »als Beginner einer neuen Epoche« (349) antiquiert der Vf. zu einer längst fraglich gewordenen Konzeption des 19. Jh.s. Er selbst scheint die geschichtliche Wirkung des Reformators keineswegs als epochal einzuschätzen, sondern allenfalls noch als episodisch. Die Reformation Martin Lu­thers: War sie am Ende tatsächlich nicht mehr als ein flüchtiges Intermezzo zwischen Mittelalter und Neuzeit? Ein weiterer, ebenfalls Jenaer Lutherinterpret, seinerseits holzschnittartig pointierend, wusste es anders: »Der Protestantismus ... ist einzig und allein das Werk und die Tat dieses in seiner Art einzigen und allerdings welthistorischen Mannes gewesen« (F. Schlegel).