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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1219–1221

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kolb, Robert

Titel/Untertitel:

Bound Choice, Election, and Wittenberg Theological Method. From Martin Luther to the Formula of Concord.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2005. XIII, 381 S. gr.8° = Lutheran Quarterly Books. Kart. US$ 35,00. ISBN 0-8028-2922-8.

Rezensent:

Athina Lexutt

Die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit erlebt derzeit eine kaum geahnte Renaissance. Seit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften und dem daraus folgenden Verdacht, alles Denken, Fühlen und Handeln lasse sich auf neuronale Prozesse zurück­führen, gerät auch die Theologie in neuen Zugzwang im Blick auf anthropologische Fundamentalaussagen. Nicht ausschließlich, aber auch aus diesem Kontext heraus erklärt sich das neu erwachte Interesse an Martin Luthers Aussagen zum liberum bzw. zum servum arbitrium. Luthers Verneinung einer Freiheit des menschlichen Willensvermögens im Blick auf das Heil wird dabei – zumal dann, wenn vorschnell Begriffe wie »Prädestination« oder »Determinismus« zur Hand sind – für die moderne Sicht in bisweilen anachronistischer Verzerrung vereinnahmt.
Dies vor Augen ist jede intensive Beschäftigung mit Luther selbst und seinem Verständnis der Unfreiheit des menschlichen Willensvermögens höchst willkommen. Und ebenso nötig ist es, die Frage nach der unmittelbaren Rezeption seiner Ausführungen zu stellen. Ebendies unternimmt Robert Kolb, Mission Professor of Systematic Theology und Direktor des Instituts für Mission Studies am Concordia Seminary St. Louis, im vorliegenden Werk. Ausgehend von der Beobachtung, wie wenig Beachtung Luthers Schrift »De servo arbitrio«, von der dieser selbst behauptete, sie sei neben dem Katechismus seine vielleicht einzig wertvolle, in der Zeit nach seinem Tod in der Lutherischen Theologie gefunden hat, will er eine empfindliche Lücke in der Lutherforschung schließen. Zu­gleich will er anhand der Rezeption und Weiterentwicklung der Lutherschen Lehre vom unfreien Willensvermögen bis zur Formula concordiae aufzeigen, wie eigentlich in Wittenberg theologisch gearbeitet wurde, welche Methode also Anwendung gefunden hat und wie sich der Forschungs-, Lern- und Lehrbetrieb im Alltag jenseits der großen Debatten gestaltete. K. sieht es als seine Aufgabe an, gewissermaßen die Vorarbeit zu Klaus Schwarzwällers »sibboleth« (1969) zu leisten, der in seiner Rezeptionsgeschichte mit Theodosius Harnack beginnt. Nicht vorgelegen hat K. offensichtlich die Untersuchung von Theodor Mahlmann (Die Interpretation von Luthers De servo arbitrio bei orthodoxen lutherischen Theologen, vor allem Sebastian Schmidt (1617–1696), in: Slenczka, Notger/ Sparn, Walter [Hrsg.]: Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers. Festschrift für Jörg Bauer zum 75. Geburtstag, Tübingen 2005, 73–136). Da K. für seine Darstellung schlicht mehr Raum zur Verfügung hat und seine Fragestellung gegenüber Mahlmanns Ansatz leicht akzentuiert ist, gibt es jedoch nur geringe und dann tatsächlich auch fruchtbare Überschneidungen und ansonsten wertvolle Ergänzungen.
K. beginnt mit einer »Leseanleitung« für De servo arbitrio: Was gilt es zu bedenken, welche Voraussetzungen hermeneutischer und methodischer Art müssen berücksichtigt werden, um Luthers Aussagen recht zu verstehen? In Auseinandersetzung mit Sichtweisen und Interpretationsmustern der Sekundärliteratur schält K. die äußere und innere Vielschichtigkeit der Lutherschrift heraus, bevor er von dort aus nach den theologischen Hauptaussagen fragt. Diese kulminieren für ihn in folgenden Punkten: Gott ist als der allmächtige Schöpfer und souveräne Herr für alles verantwortlich; dieser seiner Schöpfung an sich verborgene Gott hat sich in Jesus Christus und der Schrift offenbart; Gott hat aus der gefallenen Schöpfung bestimmte Menschen ausgewählt, die dazu bestimmt sind, ihm zu vertrauen; Gott wirkt im gesprochenen, geschriebenen und sakramentlich-leiblichen Wort; Menschen sind als Geschöpfe vollständig abhängig von ihrem Schöpfer; diese Abhängigkeit bedeutet, dass alles mit Notwendigkeit, d. h. als göttliche Entscheidungen, geschieht; der Mensch ist verantwortlich für seine Disposition und Handlungen und als solcher Gefangener Satans und angewiesen auf die Befreiung Gottes; gleichzeitig ist der Mensch von Gott mit aktivem Bewusstsein und Willen ausgestattet; daher befindet sich der glaubende Sünder in einer steten Spannung und ist sein gesamtes Leben Buße; Gott ist nicht verantwortlich für das Böse. An diesen Grundaussagen entlanggehend entwirft K. in schnellen Schritten eine »De servo arbitrio«-Theologie, was ebenso anregend wie gefährlich ist: Es gelingt K. ohne Zweifel, die zentralen Aussagen zu erfassen, doch ist vieles notwendig verkürzt und nicht immer a) in der historischen Situation und b) in der Theologie Luthers insgesamt verortet. Nun ist es auch nicht K.s Ziel, eine Theologie Luthers anhand von »De servo arbitrio« zu entwerfen, doch gerade an den neuralgischen Punkten vermisst der kundigere Leser vor allem den radikal christologisch-soteriologischen Fokus Luthers. Im Blick auf K.s folgende Ausführungen wäre eine noch intensivere Beschäftigung mit Luthers Auffassung von Prädestination in »De servo arbitrio« wünschenswert gewesen. Es ist auffällig, wie selten der Begriff in Luthers Schrift vorkommt (im Gegensatz zu praescientia), und es wäre eine eigene Untersuchung wert, ob nicht Luthers Rede vom liberum arbitrium als nomen divinum eine ganz neue Perspektive auf den gesamten Problemkreis böte. Dieser Frage stellt sich K. leider nicht, und so bleibt das historische und systematische Problem, ob nicht die von K. beschriebene nachlutherische Zeit hier etwas thematisiert, was so jedenfalls bei Luther nicht zu finden ist und er möglicherweise genau damit schon längst beantwortet hat.
In einem zweiten Schritt fragt K. nach der Rezeption dieser Aussagen unter den – wie er sie nennt – »Lutheran Humanists«, konzentriert sich dann aber sehr schnell auf Philipp Melanchthon, was insofern bedauerlich ist, als somit scheinbar alles auf alte Debatten hinausläuft, die sich bei K. wiederfinden in einer m. E. unzureichend beschriebenen Alternative: »As a person whose life unfolded in the lecture hall and in diplomatic negotiations, Melanchthon faced a different challenge than did Luther, who remained preacher even before his students, in striking the delicate balance between holding God’s and human responsibility in tension, on the one hand, and on the other, attempting clear explanations for curious learners or hostile negotiators for the other side.« (101 f.)
Im dritten und vierten Kapitel untersucht K., wie sich diese Ansätze und Ziele, die sich bei Luther und Melanchthon abzeichneten, in ihren jeweiligen Schülern fortsetzten, und beleuchtet dazu die verschiedenen Streitigkeiten der nachlutherischen Ära, und ob und wie »De servo arbitrio« bei der Lehre vom freien Willen benutzt wurde. K. nutzt seine für »De servo arbitrio« eruierte Grundstruktur theologischer Aussagen als Muster für seine Frage danach, wie weit Luthers Schrift Eingang in die nachfolgende Theologengeneration gefunden hat. Dabei stellt sich heraus, wie sehr Luthers Aussagen namentlich in der Debatte um den Synergismus an Bedeutung gewannen, während – was dann Thema des fünften Kapitels ist – die vorausgesetzte und implizit mitschwingende Prädestination sich als echtes Problem erweist, wie K. an ausgewählten Beispielen verdeutlicht.
Im sechsten Kapitel wird nun die Auffassung der Prädestination für Cyriakus Spangenberg, Martin Chemnitz und Jakob Andreae untersucht und damit die unmittelbare Vorstufe der Formula concordiae beleuchtet. Der Formula concordiae in Genese und abschließendem Text widmet sich dann das siebte Kapitel, bevor das achte Kapitel noch einmal gezielt nach »The Wittenberg Cir­cle’s Practice of Theology« anhand des gewählten Themas »Freier Wille« fragt. K. kommt zu dem Schluss: »This study has shown that in seeking to affirm both God’s responsibility for all things and the human responsibility to believe God and obey him, Luther and Melanchthon strove to reproduce the biblical view of Creator and creature faithfully. Instead of homogenizing and harmonizing what God does and what human beings have been created to do ... the Wittenberg circle endeavored to hold the two seemingly exclusive propositions in tension, to treat them as a true paradox.« (271)
Insgesamt vermittelt K. einen interessanten Einblick in Luthers Auffassung vom menschlichen Willensvermögen und deren Re­zeption bis zur Konkordienformel. Gleichwohl: Es wird deutlich, wie viel Kärrnerarbeit in beiden Bereichen noch zu leisten ist. »De servo arbitrio« selbst und Luthers vorhergehende und nachfolgende Aussagen zum Themenkomplex werden unablässig Stoff für weitere Untersuchungen bieten; ebenso wird bei jeder, unbedingt fortzusetzenden Rezeptionsgeschichte noch genauer auf die Verwendung bestimmter Begriffe zu achten sein. Als Anregung und wichtiger Schritt auf diesen noch zu gehenden Wegen ist K.s Buch zu empfehlen.