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Ausgabe: | November/2007 |
Spalte: | 1208–1210 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Wilder, Terry L. |
Titel/Untertitel: | Pseudonymity, The New Testament, and Deception. An Inquiry into Intention and Reception. |
Verlag: | Lanham: University Press of America 2004. XI, 296 S. 8°. Kart. US$ 43,00. ISBN 0-7618-2793-5. |
Rezensent: | Armin D. Baum |
Die Verfasser neutestamentlicher Pseudo-Paulinen hatten die Absicht, ihren Lesern vorzutäuschen, der Apostel Paulus habe diese Briefe geschrieben. Bei jedem pseudo-paulinischen Brief, der sich im neutestamentlichen Kanon befindet, ist diese Täuschung gelungen. So lässt sich die Hauptthese der vorliegenden Dissertation zusammenfassen, die 1998 an der Universität Aberdeen angenommen und 2004 in nur leicht überarbeiteter Form veröffentlicht wurde.
In Kapitel 1 (1–34) erörtert W. knapp, wie Pseudepigraphie zu definieren ist, und unterscheidet in einem Forschungsüberblick zwischen mehreren Grundpositionen, die als Antwort auf die Frage nach der Intention und Rezeption pseudepigrapher Schriften entwickelt worden sind. Die drei wichtigsten Positionen lauten (mit einigen Hauptvertretern): 1. Die neutestamentlichen Pseudepigraphen sollten ihre Leser nicht täuschen, haben sie jedoch getäuscht (A. Jülicher, C. Gempf). 2. Die neutestamentlichen Pseudepigraphen sollten ihre Leser nicht täuschen und haben sie nicht getäuscht (K. Aland, R. J. Bauckham, J. D. G. Dunn, I. H. Marshall, U. Schnelle). 3. Die neutestamentlichen Pseudepigraphen sollten ihre Leser täuschen und haben sie getäuscht (A. D. Baum, N. Brox, D. Guthrie, L. R. Donelson, W. Speyer). Weniger einleuchtend als diese Einteilung ist W.s Folgerung, als täuschungsfrei würden neutestamentliche Pseudepigraphen primär von britischen und als literarische Fälschungen primär von deutschen und amerikanischen Forschern eingestuft (20). Nicht nur K. Aland, D. Guthrie und U. Schnelle entziehen sich einer solchen Aufteilung in nationale Lager. Nach 1998 erschienene Literatur zum Thema hat W. kaum noch berücksichtigt. Unverzichtbar ist jetzt die bei W. noch nicht verarbeitete Forschungsgeschichte von M. Janßen (ARGU 14 [2003]). Als deutscher Vertreter der »britischen« Position wäre neuerdings auch R. Zimmermann (ZNT 12 [2003], 27–38) einzustufen. Als Verteidiger der »deutsch-amerikanischen« Position haben sich jüngst F. F. Beatrice (JAC.E 33 [2002], 39–51), M. Frenschkowski (BZNW 106 [2001], 239–272) und E. Verhoef (BN 106 [2001], 90–98, sowie HTS 59 [2003], 991–1005) geäußert.
In Kapitel 2 (35–73) zeigt W. in einem ersten Schritt gegen Exegeten wie G. Bornkamm und A. T. Lincoln, dass die antike Welt einschließlich der frühen Kirche das Konzept geistigen Eigentums gekannt hat. Verstärkt worden ist W.s Argumentation jetzt durch K. Schickerts Studie Der Schutz literarischer Urheberschaft im Rom der klassischen Antike (Tübingen 2005). Die in einem zweiten Schritt entfaltete These, in den antiken Philosophenschulen, speziell in pythagoreischen Schulzusammenhängen, ließen sich ausnahmsweise »unschuldige« Pseudepigraphen nachweisen, die ihre Leser weder täuschen sollten noch von diesen als Täuschungsversuche aufgefasst wurden (54–59), dürfte dem Quellenbefund dagegen nicht gerecht werden. Bei den betreffenden Schriften unter dem Namen des Pythagoras scheint es sich nicht um Pseudepigraphen im Sinne der von W. (2) verwendeten Definition zu handeln (vgl. WUNT 2/138 [2001], 51–63.234–235.220–227.256–257).
Kapitel 3 (75–121) präsentiert zahlreiche antike Briefsammlungen mit Diogenes-, Sokrates-, Plato-, Pythagorasbriefen usw., die von der modernen Forschung großenteils als unauthentisch eingestuft werden. Viele von ihnen enthalten (wie die neutestamentlichen Paulinen) neben einer präzisen Absender- und Adressatenangabe Grüße und sehr konkrete Personal- und Situationshinweise. Der 13. Brief des Plato versichert dem Empfänger Dionys II. gar einleitend, »Dieser Gruß sei der Anfang meines Briefes und zugleich das Erkennungszeichen, dass er von mir ist«, und schließt mit den Worten »Ob das Original dieses Briefes oder eine Abschrift davon aufbewahrt werde, das musst du selbst entscheiden«. W. findet eine Entscheidung über die Täuschungsabsicht im Einzelfall schwierig (99). Insgesamt setzt er jedoch voraus, dass zwar einige der zahlreichen pseudepigraphen Philosophenbriefe ihren Lesern die authentische Abfassung durch den als Absender genannten Philosophen vortäuschen wollten, andere jedoch nicht (106–110). Aus der Existenz pseudepigrapher Philosophenbriefe ohne Täuschungsabsicht, die den neutestamentlichen Paulusbriefen in vielem ähnlich sind, folgert W., es habe in der Antike eine literarische Konvention gegeben, die das Abfassen pseudepigrapher Briefe ohne Täuschungsabsicht vorsah. In einem solchen historischen Kontext sei es im Prinzip ohne weiteres möglich gewesen, einen Brief unter dem Namen des Paulus zu verbreiten, ohne damit seine Leser zu täuschen. Um diese These ausreichend abzustützen, wäre es sicher notwendig gewesen, die Annahme, ein Teil der angeführten Philosophenbriefe hätten sich einer »unschuldigen« Pseudepigraphie bedient, zu belegen. Einen entsprechenden Nachweis bleibt W. schuldig.
In Kapitel 4 (123–163) ergibt sich anhand der einschlägigen Belegstellen, dass die frühkirchlichen Autoren die pseudepigraphe Abfassung einer Schrift nahezu einhellig verurteilt und als pseudepigraph eingestuften Schriften keinen kanonischen Rang zuerkannt haben. In der alten Kirche habe es keine literarische Konvention gegeben, die die Verbreitung täuschungsfreier Briefe unter falschem Namen ermöglichte. Daher könnten frühchristliche Pseudepigraphen, obwohl täuschungsfreie Pseudepigraphie in der Antike grundsätzlich möglich war, nicht ohne Täuschungsabsicht verfasst worden sein.
In Kapitel 5 (165–216) geht W. der Frage nach, woran es liegt, dass jeder, der sich in der frühen Kirche täuschungsfrei zu Wort melden wollte, anonym oder (wie Clemens, Ignatius oder Polykarp) unter eigenem Namen schreiben musste. Seine Antwort lautet, dass den Aposteln im frühen Christentum eine einzigartige und unwiederholbare Autorität zuerkannt wurde; wer als Nicht-Apostel unter dem Namen eines Apostels schrieb, habe für seine pseudepigraph verbreiteten Aussagen eine apostolische Autorität beansprucht, die ihm in Wahrheit nicht zukam, und seine Leser damit getäuscht. Dieses Konzept apostolischer Autorität sei bereits in aller Breite im Neuen Testament selbst bezeugt (1Kor 9,1–3; 14,37–38; 2Kor 10–13; Gal 1,1–2,10). Daher müsse es (gegen R. J. Bauckham und J. D. G. Dunn) auch als unwahrscheinlich gelten, dass die Christenheit wenigstens bis zum Beginn des 2. Jh.s pseudepigraphe Schriften als täuschungsfrei betrachtet habe.
Kapitel 6 (217–243) ist einer Analyse der umstrittenen Paulinen gewidmet. Diese (besonders 2Thess, Kol und 2Tim) lassen W. zufolge durch ihre Personalnotizen und ihre ausdrücklich als »eigenhändig« bezeichneten Schlussbemerkungen erkennen, dass ihre Autoren bemüht waren, sie möglichst paulinisch erscheinen zu lassen. Auch diese Beobachtung spreche dafür, dass ihre Autoren ihren Lesern eine paulinische Herkunft dieser Briefe vortäuschen wollten.
Sieht man davon ab, dass sie in der Literaturverarbeitung kaum über 1998 hinausgreift und in Kapitel 3 eine empfindliche Argumentationslücke aufweist, handelt es sich bei W.s Untersuchung um einen wertvollen Beitrag zur Pseudepigraphie-Diskussion. Wenn nicht alles täuscht, verliert die klassische These von einer »unschuldigen« neutestamentlichen Pseudepigraphie international mehr und mehr an Boden.