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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1192 f

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Zimmer, Siegfried

Titel/Untertitel:

Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 203 S. 8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-525-57306-8.

Rezensent:

Jens Schröter

Ausgangspunkt dieser Studie ist die Konstatierung eines Risses, der durch die Christenheit gehe. Gemeint ist der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern der historisch-kritischen Bibelwissenschaft. Dieser bedrohe die Einheit der Christen und verlange deshalb nach einer sorgfältigen Aufarbeitung der auf beiden Seiten vorgebrachten Argumente. Siegfried Zimmer, Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, wendet sich dazu »in erster Linie an Christinnen und Christen, die der Bibelwissenschaft skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen«. Ihnen möchte er in seinem gut lesbaren und mit persönlichem Engagement geschriebenen Buch nahebringen, dass die Bibelwissenschaft weder eine Relativierung der Bibel intendiert noch eine Gefahr für den persönlichen Glauben bedeutet.
Der Tenor des Buches ist sehr verbindlich. Z., der selbst einem evangelikalen Milieu entstammt und sich erst später der Bibelwissenschaft geöffnet hat, weiß sich den Christinnen und Christen mit einem derartigen Hintergrund verbunden. Sein Bemühen zielt deshalb zum einen darauf, das Verbindende im Glauben aller Christen herauszustellen, zum anderen möchte er Vorurteile abbauen, die von »fundamentalistischen« Christen gegen die Bibelwissenschaft vorgebracht werden. Den Begriff »Fundamentalismus« ge­braucht er dabei als theologischen Fachterminus in Anknüpfung an die Selbstbezeichnung nordamerikanischer »fundamentalists«. Er versteht ihn also nicht abwertend, hält ihn allerdings – im Unterschied zu »bibeltreu« – für sachgemäß.
Das Buch ist in zwei Hauptteile untergliedert. Im weitaus um­fangreicheren ersten Teil (13–168) werden »Grundsätzliche Aspekte« erörtert, der zweite Teil, »Ausgewählte Brennpunkte« (169–202), bringt ein Fallbeispiel (das Buch Hiob) und widmet sich biographischen Konfliktsituationen junger Erwachsener mit evangelikalem Hintergrund, die im Theologiestudium mit der kritischen Bibelwissenschaft konfrontiert werden.
Zu Beginn wird dargelegt, was Christen in ihrer Sicht auf die Bibel eint. Nach Z. ist dies die Tatsache, dass Gott auch heute zu den Menschen durch die Bibel spricht und man aus ihr Orientierung in allen heilswichtigen Fragen erhält. Dieser Aspekt wird am Ende des Buches wieder aufgenommen und als grundlegende Gemeinsamkeit bezeichnet, die durch unterschiedliche Bibelverständnisse nicht in Frage gestellt werde. Bereits an dieser Rahmung des Buches zeigt sich, dass die Christenheit Z. zufolge nicht in ein »fundamentalistisches« und ein »kritisches« Lager zerfallen darf.
Als Argumente gegen ein fundamentalistisches Bibelverständnis werden zunächst die Unterschiede zwischen Gott und Bibel sowie Jesus Christus und Bibel dargelegt. Es handle sich hierbei um kategoriale Differenzen, die keine Trennungen bedeuten und die Bibel nicht herabsetzen. Anders als in Judentum und Islam sei das Schriftverständnis im Christentum nicht auf einen überirdisch entstandenen, unfehlbaren und widerspruchslosen Text gerichtet. Die Bibel gehöre nicht auf die Seite Gottes, sondern auf diejenige der Schöpfung; sie werde nirgendwo als Inhalt des Glaubens be­zeichnet; sie sei, anders als Gott selbst, nicht fehlerlos und vollkommen. Die entscheidende Offenbarung Gottes sei Jesus Chris­tus, nicht die Bibel. Das werde auch durch das häufig von fundamentalistischer Seite vorgebrachte Argument, alles Wichtige über Jesus Christus stehe in der Bibel, nicht widerlegt. Das Neue Testament stelle erst eine Folge der Ereignisse um Jesus Christus dar und dürfe nicht in den Rang dieser Ereignisse selbst erhoben werden. Dies zeige sich nicht zuletzt daran, dass das Neue Testament erst in einem längeren Kanonisierungsprozess entstanden ist und die neutestamentlichen Autoren einhellig bezeugen, dass sich Gott in Jesus Christus, nicht jedoch in einem Buch, offenbart hat.
Ein weiteres Kapitel (»Inwiefern ist die Bibel Gottes Wort?«) geht den verschiedenen Gestalten des Wortes Gottes nach: Jesus Christus als das menschgewordene Wort Gottes; Gottes Schöpfungswort; Gottes mündliches Wort, verkündet von Propheten, Jesus Christus und den Aposteln; Gottes schriftliches Wort (etwa in der Berufung neu­testamentlicher Autoren auf »die Schrift«). Die Bibel könne demnach nicht einfach mit dem Wort Gottes identifiziert werden. Erforderlich sei vielmehr eine differenzierte Verhältnisbestimmung.
Z. befasst sich sodann mit der Inspirationsvorstellung. Auch hier sei ein grundlegender Unterschied zu Judentum und Islam zu konstatieren. In der Alten Kirche begegne die Vorstellung der Inspiration der Bibel nur vereinzelt (bei Origenes und Augustin). Auch dann sei sie in ein Gesamtverständnis eingebettet, das von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus herkommt. Die Lehre von der Verbalinspiration in der lutherischen Orthodoxie müsse in ihrem historischen Kontext betrachtet werden. Sie diente zum einen der Verteidigung des reformatorischen »sola scriptura« gegenüber der katholischen Kirche, zum anderen sollte mit ihr eine Infragestellung des biblischen Weltbildes durch die neuzeitlichen Entdeckungen verhindert werden. Die Lehre einer Inspiration der biblischen Schriften im Sinn ihrer Fehler- und Widerspruchslosigkeit sei dagegen für christliches Verständnis nicht angemessen.
Schließlich legt Z. dar, dass die Entstehung der Bibelwissenschaft eine Konsequenz des modernen Zeitalters sei, die dem geschichtlichen Wandel und den neuzeitlichen Entdeckungen Rechnung trage. In einem instruktiven Abschnitt werden dabei Veränderungen skizziert, die sich durch die Entstehung des historischen Denkens für die Sicht auf die Bibel ergeben haben. Des Weiteren wird auf archäologische Entdeckungen des 19. Jh.s im Alten Orient hingewiesen – wie etwa die Entzifferung der Hieroglyphen oder den Fund der Bibliothek Assurbanipals –, die für die Interpretation des Alten Testaments entscheidende Folgen hatten. Für das Neue Testament ließen sich hier analoge Beobachtungen nennen.
Am Beispiel der Hioberzählung führt Z. schließlich vor, wie unsinnig es wäre, jeden biblischen Text im wörtlichen, historischen Sinn zu verstehen. Damit soll verdeutlicht werden, dass es oftmals gerade die Intention biblischer Texte ist, Gotteserfahrungen mittels literarischer Motive vor Augen zu stellen.
Z. hat ein Buch geschrieben, das sich als Lektüre am Beginn des Studiums vorzüglich eignet, besonders – aber nicht nur – für Stu­dierende mit einem »fundamentalistischen« Hintergrund. Es ist in­formativ, klar in der Argumentation und dabei stets unpolemisch. Insofern leistet es bei der Aufklärung von fundamentalistischen Vorurteilen gegenüber der historisch-kritischen Bibelwissenschaft wertvolle Dienste.
Zu fragen bleibt, ob der konstatierte »Riss« tatsächlich durch die gesamte Christenheit geht oder nicht eher ein protestantisches Phänomen darstellt. Z. weist zu Recht darauf hin, dass die Bibelwissenschaft durch die entsprechenden Dokumente des 20. Jh.s auch in der katholischen Kirche Anerkennung gefunden hat. Andererseits hat Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) kürzlich ein Jesusbuch veröffentlicht, das auf der Überzeugung von der Inspiration der biblischen Schriften basiert. Dabei handelt es sich um einen Zugang, der biblischen Glauben und Vernunft auf eigene Weise zueinander in Beziehung setzt. Die von Z. angestellten Überlegungen wären in modifizierter Weise auch in einen Diskurs über diese Frage einzubringen. Die hier vorgelegten Argumente für einen kritisch reflektierten Glauben sind deshalb auch im weiteren theologischen Horizont von Interesse.